Lass mich in Dein Herz
Ordnung, Stefan. Schönen Feierabend.«
Er ging, und sie wandte sich erneut den Unterlagen auf ihrem Schreibtisch zu. Doch ihre Konzentration ließ sie mit einem Mal im Stich. Den ganzen Tag über hatte der Trubel im Gericht ihr dabei geholfen, einen bestimmten Gedanken auszusperren. Nun, da sie allein war, klopfte er sofort wieder an. Sie dachte an die vergangene Nacht – wie und wo sie sie verbracht hatte.
Sie erinnerte sich an die traurigen Augen, die ihr entgegengeblickt hatten, als sie sich davonschleichen wollte. Es war nicht zu übersehen gewesen, was in ihnen geschrieben stand.
Ja schon, aber soll ich aus Mitleid noch einmal mit ihr schlafen?
Mitleid? Also wirklich, Andrea, wenigstens ein bisschen Ehrlichkeit, wenn ich bitten darf. Es war ja wohl kein Mitleid, warum du mit ihr geschlafen hast!
Na gut, dann war es eben bloße, niedrige Begierde.
Was auch immer, sie konnte Gina nicht helfen. Wenn die sich mehr erhoffte, war das ihr Problem.
Das Telefon klingelte.
»Jordan«, meldete sich Andrea.
Nichts tat sich am anderen Ende.
»Hier Jordan«, wiederholte Andrea in der Annahme, sie sei nicht verstanden worden. Oder war es etwa . . .
»Gina?« Weiterhin Stille.
Sie wollte gerade auflegen, da drang eine raue, hasserfüllte Stimme an ihr Ohr.
»Von diesem Augenblick an habe ich dich im Visier. Ich beobachte dich Tag und Nacht. Ich werde alles über dich wissen, du nichts über mich.« Leiser Atem. »Ich nehme dir dein Leben, wie du mir meins genommen hast. Was dir bleibt, wird ein Alptraum sein. Diesmal bestimme ich , wie die Sache läuft!«
Ein Knacken in der Leitung. Aufgelegt.
Andrea ließ die Hand mit dem Hörer sinken. Was war das denn? Sie musste erst einmal umschalten. Es dauerte einige Sekunden, bis sie sich darüber klar wurde, was gerade geschehen war. Es war nicht der erste Anruf eines vermeintlich zu Unrecht Verurteilten. So etwas kam öfter einmal vor. Dennoch. Dieser hier war anders. Nicht die übliche Flut von Kraftausdrücken und Beleidigungen. Kein spontaner Ausbruch, der in dem Moment, da die Worte fielen, dem Verärgerten Befriedigung verschaffte, und das war es dann. Dieser Anruf enthielt eine sehr konkrete Drohung und war voller Hass.
Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und atmete ein paarmal möglichst ruhig durch. Keine Panik. Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Der Mann ist zwar eindeutig einen Tick verrückter als die anderen, aber die Wahrscheinlichkeit, dass er loszieht und seine Drohung wahr macht, ist doch eher gering. Er wollte dir nur einen gehörigen Schrecken einjagen. Was ihm zugegebenermaßen gelungen war.
Sie packte ihre Tasche. Es hatte keinen Sinn, sich wieder den Akten zuzuwenden. Falls vor dem Anruf noch eine geringe Chance bestanden hatte, sich irgendwie konzentrieren zu können, war dies jetzt in jedem Fall unmöglich. Sie würde lieber nach Hause fahren.
Sie verließ das Gerichtsgebäude. Die frische Luft tat gut, machte den Kopf wieder klar, befreite sie sowohl von den Gedanken an Gina als auch an den Anruf.
Sie war fast an ihrem Wagen angekommen, da stutzte sie plötzlich. Er sah irgendwie komisch aus. Sie ging näher heran – und fluchte inbrünstig. Ihr Auto stand auf vier Plattfüßen! Beim näheren Hinsehen stellte sie fest, dass nicht einfach nur die Luft abgelassen worden war. Jemand hatte die Reifen aufgeschlitzt.
Damit war eines klar: Es handelte sich nicht um einen harmlosen Dummenjungenstreich. Hatten halbstarke Jugendliche ihrem Nachmittag mit dem Aufschlitzen von Reifen einen Kick verpasst? Ein Betrunkener seinen Frust abreagiert? Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass an ein und demselben Tag mehrere voneinander unabhängige Personen – erst der Anrufer, dann der oder die Reifenschlitzer – ausgerechnet sie trafen? Die Chance war gleich Null.
Als sie das erkannte, wurde ihr schlecht. Denn es bedeutete, dass die kaputten Reifen auf das Konto des rachsüchtigen Anrufers von vorhin gingen. Die Plattfüße waren seine Warnung: Pass auf. Ich meine es ernst.
Andrea erschauerte bei der Erinnerung an den Hass in der Stimme des Mannes. Er hatte gesagt, dass er ihr Leben in einen Alptraum verwandeln würde. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, was alles passieren konnte, wenn er seine Drohung in die Tat umsetzte.
Nur eines war sicher: Sie konnte sich vor willkürlichen Attacken wie diesen hier nicht schützen.
3.
A m nächsten Tag kurz nach Mittag klopfte es an ihrer Bürotür. Stefan trat ein. »Ich
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