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Lass sie bluten

Lass sie bluten

Titel: Lass sie bluten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Lapidus
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Ansprache. Er trug ein Gewand, das aussah wie eine Mischung aus einem schwarzen Umhang mit Goldapplikationen und einem Zaubermantel. Natalie hatte in ihrem Leben ungefähr siebenmal einen serbisch-orthodoxen Gottesdienst besucht und war jedes Mal zu Ostern in die Kirche gegangen. Doch die heutige Beerdigungsfeier leitete nicht irgendein Priester. Der Bischof war ein hohes Tier in der geistigen Welt. Bischof Milomir: Bischof über Großbritannien und Skandinavien. Normalerweise hielt er sich in London auf, aber zu diesem Anlass war er unmittelbar angereist.
    Der Bischof redete weiter. Davon, wie ihr Vater 1981 als Arbeitssuchender nach Schweden kam. Bei Scania in Södertälje zu arbeiten begann. Wie er emporstrebte, Firmen gründete und Unternehmen aufbaute. Ein vermögender Mann wurde, ein erfolgreicher Mann, ein geachteter Bürger. Wie er weiterhin regelmäßig den Gottesdienst besuchte, Geld zu Wohltätigkeitszwecken und für die Erbauung der Kirche in Enskede Gård spendete. Vor allem aber: dass er sich niemals vom serbischen Volk und dem serbischen Glauben abgewendet hatte. Gewisse Angaben hatte der Bischof offenbar von Dritten erfahren oder sich selbst ausgedacht. Wie zum Beispiel, dass ihr Vater oft den Gottesdienst besucht hätte – da war ungefähr so viel dran wie an der Tatsache, dass es tagesfrische Kokosbälle gibt.
    Der Chor sang erneut. Der Bischof schwang eine Öllampe über den Boden. Alle sangen gemeinsam: die volkstümliche Nationalhymne über den heiligen Georg – sie passte besser denn je. Die Kerzen, die die Trauergäste in Händen hielten, waren dabei herunterzubrennen. Die Flammen flackerten sachte. Das Ganze dauerte bereits über eine Stunde.
    Der Bischof begann auf Kirchenslawisch zu lesen. Er goss Öl auf den Körper ihres Vaters. Tropfen auf der bleichen Stirn.
    Der Geruch nach Myrrhe. Diese eintönige Litanei.
    Jetzt war es zu Ende.
    Der schwedische Pfarrer aus Södertälje rief, dass es nun an der Zeit für den letzten Kuss sei. Mama begann aufzustehen. Dieses Ritual würde nach einer besonderen Abfolge ablaufen, die ebenfalls vorsah, dass man entgegen des Uhrzeigersinns wieder zu seinem Platz zurückkehrte.
    Natalie hielt ihre Hand fest umschlossen.
    Sie näherten sich ihrem Vater.
    Sein graumeliertes Haar wirkte heller als sonst. Seine Kieferpartie, die sonst so breit anmutete, wenn er Natalie anlächelte, wirkte ganz eingefallen. Sein Hals, normalerweise sah er kräftig aus. Jetzt war er schmal wie der eines Vogels.
    Ihre Mutter beugte sich hinunter und küsste ihren Vater flüchtig auf die Stirn.
    Natalie stellte sich ans Kopfende des Sargs. Sie hatte das Gefühl, dass alle Anwesenden in der Kapelle aufschauten und sie beobachteten. Darauf warteten, was sie tun würde.
    Sie schaute hinunter. Auf das Gesicht ihres Vaters. Die geschlossenen Augen. Die glänzenden Wimpern.
    Sie beugte sich hinunter. Hielt ein paar Millimeter oberhalb seiner Stirn inne. Sie weinte nicht. Dachte nicht nach. Trauerte nicht.
    Ihr ging lediglich ein Gedanke durch den Kopf: Papa, du wirst stolz auf mich sein. Diejenigen, die dir das angetan haben, werden es noch bereuen.
    Dann küsste sie ihn.
     
    Die Menge lichtete sich allmählich. Es standen vielleicht noch hundert Personen auf dem Kirchhof. Sogar die Polizisten zogen langsam ab.
    Natalie ging auf ein Taxi zu, das sie vor mehr als einer Viertelstunde gerufen hatte. Allein das irritierte sie – eine Viertelstunde warten zu müssen, obwohl direkt an der Ecke einige Wagen standen.
    Viktor ging ein paar Meter hinter ihr. Ihre Mutter hatte es deutlich gesagt: »Ihr seid noch nicht verheiratet, also kann er leider nicht neben uns in der Kapelle sitzen.«
    Für Viktor schien es kein Problem zu sein. Ganz ehrlich, in der letzten Zeit schien ihm sowieso alles irgendwie egal zu sein.
    Ein Stück entfernt kam Goran am Zaun entlang auf sie zu.
    Den Kopf leicht nach vorn geneigt. Gorans Haltung war miserabel.
    Er blieb vor ihr stehen.
    Küsste sie rechts, links, rechts auf die Wangen. Obwohl er sie vor der Beerdigung bereits geküsst hatte. Er sagte: »Natalie. Mein Beileid.«
    Sie fragte sich, warum er es noch einmal wiederholte.
    Er streckte seine Hand vor. Ergriff Natalies Hand. Hielt sie ein paar Sekunden fest. Umschloss sie. Seine grauen Augen schauten geradewegs in ihre. Sein Blick war nicht mitleidsvoll wie die der anderen. Er war bestimmt. Entschlossen.
    Er ließ ihre Hand los. Ging weiter in Richtung Kirchhof, wo ihre Mutter noch mit einigen anderen

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