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Lass sie bluten

Lass sie bluten

Titel: Lass sie bluten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jens Lapidus
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Obduktion angeordnet hatte, hätten es auch nicht alle Gäste rechtzeitig geschafft einzutreffen, also hatten sie sich dafür entschieden, noch einige Tage zu warten. Doch mehr als eine Woche wäre einem Skandal gleichgekommen. Sie verabredeten mit dem schwedisch-serbischen Priester aus Södertälje, seine Messdiener dafür zu bezahlen, dass sie über den Leichnam wachten und Psalter lasen. Es war wichtig: Keiner sollte hinterher sagen können, dass die Familie Kranjic das religiöse Prozedere nicht eingehalten hätte. Mama fuhr jeden Tag zur Kapelle hinaus und vergewisserte sich, ob alles wie verabredet lief. Papa sollte wie ein Held gefeiert werden, der er auch gewesen war.
    Natalie trug ein schwarzes langärmliges Kleid von Givenchy mit rundem Ausschnitt. Keines, das nach außen hin fancy wirkte. Das wäre nicht angemessen gewesen. Das hatte der Bischof deutlich betont. Kein Pomp, keine hohen Absätze oder Röcke, die zu schwedisch anmuteten.
    Mama war noch strikter. Sie trug ein schwarzes Kostüm mit wadenlangem Rock. Dazu trug sie einen Hut mit dunklem Trauerflor.
    Es war warm – bestimmt zweihundert Leute in der Kapelle. Doch Natalie wusste, dass sich draußen nach einmal mindestens dreihundert weitere drängten. Und dann kamen aus irgendeinem Grund noch die Sicherheitskräfte der Polizei hinzu.
    Sie und ihre Mutter waren zwei Stunden früher eingetroffen. Hatten gesehen, wie der Sarg mit dem Fußende zuerst hineingetragen wurde. Sie nahmen die Beileidsbekundungen, Blumen und Wangenküsse entgegen. Es waren mehr als fünfhundert Gesichter. Sie kannte nicht einmal ein Zehntel davon.
    Sie blendete den Chorgesang, die Gesichter, die schwach flackernden Flammen der Kerzen aus. Sie sah ihren Vater vor ihrem inneren Auge. In der Skeppargata. Auf der Trage. Unter einer gelben Decke. Unter festgezurrten Riemen. Schmutzig. Blutig. Der Knall der Explosion pfiff ihr noch immer in den Ohren. Dennoch: Papa gab keinen Laut von sich.
    Das Pfeifen. Papa.
    Das Chaos.
    Sie lief neben ihm her.
    Sie mussten sie vom Krankenwagen losreißen.
     
    Zehn Stunden nachdem die Autobombe explodiert war, hatte sie in einem beengten Zimmer im Krankenhaus gesessen. Keine Blumensträuße, keine Pralinenschachteln. Lediglich Apparate mit digitalen Ziffern. Sie hatten ihr zuerst nicht sagen wollen, wo ihr Vater lag, doch diesmal bestand Natalie darauf, ihn sehen zu dürfen. Der Metallrahmen seines Bettes glänzte im Sonnenlicht, das durch die Jalousien hereindrang. Sein halbes Gesicht war zubandagiert, und in seine Nase und die Armvenen hinein führten Schläuche.
    Ihre Mutter saß am Fußende und schniefte. Natalie und Goran saßen jeder auf einem Stuhl. Eigentlich hätte Stefanovic auch dort sein müssen – doch es hieß, dass er ebenfalls auf der Intensivstation liege. Draußen hielt ein Polizist Wache. Sie befürchteten weitere Gewalttaten.
    Nach einer Weile kam eine Krankenschwester ins Zimmer. »Sie müssen jetzt bitte gehen. Er muss erneut operiert werden.«
    Mama hörte auf zu weinen. »Was haben Sie vor?«
    »Das müssen Sie den Arzt fragen.«
    »Ist diese Operation ebenso riskant wie die vorherige?«
    »Darauf kann ich Ihnen leider keine Antwort geben.«
    Mama und Goran standen auf. Natalie wollte noch nicht gehen. Sie wollte hierbleiben; sie wollte den Rest ihres Lebens neben ihrem Vater sitzen bleiben.
    Ihre Mutter sagte auf Serbisch: »Komm, Liebes. Wir müssen gehen.«
    Natalie stand langsam auf und beugte sich vor, um ihren Vater auf die Stirn zu küssen.
    In dem Augenblick erzitterte seine Hand.
    Natalie schaute hinunter. Legte ihre Hand auf seine. Es war mehr als nur ein Zittern. Er bewegte seine Finger.
    »Warte, Mama. Er bewegt sich.«
    Ihre Mutter kam mit schnellen Schritten näher. Goran beugte sich ebenfalls vor. Ihr Vater hob seine Hand von der Matratze hoch.
    Natalie hatte den Eindruck, als wolle er etwas sagen. Sie beugte sich näher zu ihm hinunter.
    Hörte seine Atmung.
    Spürte ihre Mutter dicht hinter sich.
    Ein weiterer Atemzug.
    Dann eine schwache Stimme. Ihr Vater flüsterte auf Serbisch: »Kleines Fröschchen.«
    Natalie drückte seine Hand.
    Goran fragte: »Was sagt er?«
    Natalie zischte, ohne sich umzudrehen: »Still.«
    Goran beugte sich weiter vor, horchte.
    Erneut Papas Stimme. »Kleines Fröschchen. Du übernimmst.«
    Natalie schaute ihn an. Sie konnte nicht sehen, ob seine Lippen sich bewegten. Im Zimmer war es totenstill.
    Papa sagte erneut: »Du übernimmst alles.«
     
    Der Bischof hielt seine

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