Lass uns unvernünftig sein: Roman (German Edition)
zahllose Fingerabdrücke.
Nicki fasste einfach alles an. Dauernd.
Neben seinem lackierten Esstisch aus Ebenholz ragte nun ein farbenfroher Hochstuhl in Rot und Gelb empor. In dieser Umgebung wirkte der Stuhl beinahe ein wenig wie eine blühende Frühlingsblume, die aus einem Riss in der dunklen Straßendecke wuchs. Zwischen seinem trendigen schwarzen Geschirr, das sich hinter den Glastüren seiner Anrichte befand, waren einige Trinkflaschen in fröhlichem Rot, Blau und Grün. Außerdem stand noch ein Stapel ähnlich bunter Schüsselchen mit scheußlichen Zeichentrickgesichtern verziert auf seinen guten Tellern.
Während des Essens hatte Nicole die Farben aufgesagt und ihre Bissen gezählt. Nach Anabels Lob zu urteilen, war es eine ziemliche Leistung. Sie hatte einen zitronengelben Töpfchenaufsatz ins Gästebad gestellt und erklärt, dass Nicki keine Windeln mehr trug, sondern Windelhöschen. Sie funktionierten ähnlich wie Windeln, sahen aber fast aus wie die herkömmlichen Schlüpfer für kleine Mädchen. In einigen Monaten würde Nicki ganz normale Unterwäsche tragen und keine Windeln mehr brauchen. Doch im Moment, mit all den Veränderungen, die die Kleine durchmachte, wollte Anabel sie nicht auch noch dazu drängen, trocken zu werden.
Gil entschloss sich, ein oder zwei Bücher anzuschaffen, um über diese Dinge Bescheid zu wissen. Er hatte keine Ahnung, wann Kinder was taten und wie sie sich entwickelten.
Seine Tochter redete außerdem sehr viel. Über alles. Ihre Sätze waren endlos lang, und er verstand … oh, vielleicht jedes dritte oder vierte Wort. Der Rest klang in seinen Ohren wie Kauderwelsch, obwohl Anabel sie ziemlich gut zu verstehen schien.
Nicole umarmte auch gern. Und küsste sehr viel. Sie war so ein süßes kleines Mädchen. Anabel hatte recht, was das betraf. Durch die Liebe, die sie gab und empfing, blühte Nicole regelrecht auf.
Es war noch keine Zeit gewesen, sich näher zu unterhalten, seit Anabel und Nicole eingezogen waren. Doch Gil genoss es im Augenblick einfach, die Kleine zu beobachten.
Ihr Mienenspiel war unbezahlbar – die Art, wie sie das gesamte Gesicht verzog, wenn sie wütend war, oder wie sie die Augen zusammenkniff und das Kinn leicht anhob, wenn sie jemandem ein breites Lächeln schenkte.
Wenn sie müde wurde, nuckelte sie am Daumen und zwirbelte eine Locke zwischen ihren Fingern. Wenn sie traurig oder verärgert war, schob sie die Unterlippe vor und verschränkte die Arme vor der Brust. Und sie war eine Meisterin der Manipulation. Sie bat um etwas und unterstrich diese Bitte mit einer Umarmung oder einem Kuss und einem unschuldigen Lächeln.
Sie bereitete ihm Freude – von Minute zu Minute mehr.
Gerade war Gil damit beschäftigt, Anabels Computer in dem Schlafzimmer aufzubauen, das er ihr zur Verfügung gestellt hatte.
Plötzlich kam Nicole hereingesaust und schrie: »Daddy! Daddy! Daddy!«
Sein kleiner Engel war splitterfasernackt.
Grinsend setzte Gil sich auf den Fußboden und fing sie auf, als sie sich in seine Arme warf.
Im nächsten Moment kam Anabel mit einem Windelhöschen und einem T-Shirt in der Hand um die Ecke gejagt. Als sie Nicki in Gils Arm erblickte, hielt sie erleichtert an.
»Tut mir leid. Manchmal ist sie wie ein geölter Blitz.« Sie ließ sich neben Gil auf den Boden sinken und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand.
»Macht nichts.« Im Gegenteil. Er liebte es, die Kleine zu umarmen, und er liebte es noch mehr, Daddy gerufen zu werden.
»Nicki ist ein echtes Naturkind«, erklärte Anabel, streckte die Hand aus und tätschelte den Kinderpopo. »Du passt nur ganz kurz nicht auf, und sie schlüpft aus ihren Klamotten. Vor ein paar Monaten hat sie gelernt, sich auszuziehen, und seitdem bekommt sie scheinbar nicht genug davon.«
Gil streichelte Nickis schmalen Rücken und küsste ihr flaumiges Haar. »Wir können nur hoffen, dass sie diese Phase irgendwann überwindet.«
Anabel lachte. »Am besten, bevor sie ins Teenageralter kommt, hm?«
»O Gott.« Gil drückte die Kleine an sich. »So weit im Voraus kann ich gar nicht denken. Ich gewöhne mich gerade erst daran, dass sie ein Baby ist. Ein Teenager – nein, das übersteigt mein Vorstellungsvermögen.«
Anabel lehnte sich an seine Schulter, um ihm ihre Verbundenheit zu zeigen. Für ihn fühlte es sich allerdings viel zu vertraut an. Und viel zu angenehm. Sie war keine Frau, mit der er eine rein platonische Freundschaft aufbauen konnte – nicht, wenn jede Zelle seines Körpers
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