Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
hauptsächlich mit Erwachsenen beschäftigt. Kurz wiederholt, heißt die Begründung: weil durch die Kombination von Überforderungsgefühlen und dem Beschuss mit Negativnachrichten bei Erwachsenen der Hebel für den Katastrophenmodus in der Psyche umgelegt worden ist und der Erwachsene unter einem Dauerdruck steht, aus dem sich das Rotieren im Hamsterrad ergibt. Daraus entstehen zwei Verhaltensebenen, die sich beide auf Kinder auswirken: Zum einen entstehen durch den rotierenden Erwachsenen Störungen der Beziehung zum Kind, die diesem keine normale psychische Entwicklung ermöglichen; zum anderen gibt der Erwachsene den Druck vielfach an das Kind weiter, das dadurch permanent in einem ungesunden Spannungsfeld lebt.
Zum besseren Verständnis möchte ich mit der Erläuterung direkt am Tagesbeginn anfangen. Der Erwachsene, dessen Psyche sich im Katastrophenmodus befindet, dreht bereits am frühen Morgen auf Hochtouren, wie auch das Beispiel meines Bekannten zeigte. Er rotiert innerlich und überträgt
diese Rotation ungewollt aufs Kind. Ansatzpunkte dazu gibt es zuhauf. Vielleicht steht das Kind nach dem Wecken nicht schnell genug auf, vielleicht trödelt es beim Waschen, kleckert beim Zähneputzen oder meckert über die Kleidungswahl der Eltern (je nach Alter natürlich). All dies ist nicht ungewöhnlich und normalerweise höchstens Grund für ein elterliches Stirnrunzeln und die Aufforderung, es anders zu machen. Der psychisch auf Katastrophe eingestellte Erwachsene jedoch kann sich gar nicht anders verhalten. Seiner Psyche dienen diese kleinen normalen Unzulänglichkeiten des Kindes, um den Zustand des Hamsterrades zu erhalten. Er ist in Gefahr, unter Druck zu geraten und entsprechend zu reagieren, also beispielsweise laut zu werden oder das Kind übermäßig zur Eile zu drängen. Jede Gelassenheit ist in solchen Momenten dahin.
Dieses Verhalten ist innerhalb des dreistufigen Modells von Beziehungsstörungen, das ich entwickelt habe, im Rahmen der Symbiose anzusiedeln. Diese Eltern können ihr Kind nicht mehr als eigenständige, von ihnen abgegrenzte Person wahrnehmen, sondern als Teil ihrer selbst, den sie mit dem übermäßigen Druck dazu zu bringen versuchen, ihre Forderungen sofort zu erfüllen.
Dieser Druck zieht sich häufig durch den ganzen Tag. Eile bei der Fahrt zur Schule, Stress beim Mittagessen, Druck bei den Hausaufgaben. Dazu kommt die Terminhatz, der immer mehr Kinder heute ausgesetzt sind. An einem Tag der Sportverein, an einem anderen Musikschule und vieles mehr, das Angebot ist mittlerweile unüberschaubar. Das gerne genutzte Bild vom Kind mit dem Manager-Terminkalender hat sich bedrohlich der Realität angenähert.
Das Tragische daran ist, dass Schuldzuweisungen nichts bringen. Niemand kann Eltern vorwerfen, ihre Kinder absichtlich diesem Stress auszusetzen; es ist nicht, zumindest nicht in der Masse, der überbordende Ehrgeiz der Väter und Mütter, der diesen Kindern zu schaffen macht.
Diese Eltern wollen alle das Beste für ihre Kinder. Sie sollen bestehen können, eine gute Ausbildung erhalten, Freunde finden, soziales Engagement kennen lernen. Alles für sich genommen schöne und richtige Ziele, wenn man Kinder hat. Um diese Ziele zu erreichen, sind die Eltern von morgens bis abends unterwegs, sie zerreißen sich förmlich, um dem Kind jede erdenkliche Chance zu bieten.
Und dann müssen sie erleben, dass das auf Dauer nicht so funktioniert, wie sie sich das vorgestellt haben. Das Kind rebelliert gegen alles Mögliche, ist oft schlecht gelaunt, reagiert unverschämt, vielleicht kommt noch ein Leistungsabfall in der Schule mit dazu. Alles Dinge, die niemand erwartet, wenn Eltern sich so intensiv kümmern und ihre Kinder lieben.
Diese Eltern müssen einem leidtun; trotz vieler guter Vorsätze und überdurchschnittlichem Engagement fehlt ihnen das, was das Leben mit Kindern unter anderem so wertvoll macht: genießen zu können, wie ein Kind sich entwickelt, wie es positiv durchs Leben geht und Freude bereitet. Statt dessen erleben sie das Gegenteil: Das Kind scheitert häufig, sie werden von außen genau beobachtet, häufig kritisiert, womöglich als schlechte Eltern dargestellt.
Doch auch die Kinder selbst können einem leidtun. Denn die Tatsache, dass das elterliche Verhalten keine böse Absicht ist, nützt ihnen ja nichts. Sie bekommen den Druck zu spüren, und ihnen fehlt ein klares, abgegrenztes (und damit in
sich ruhendes) Gegenüber, an dem sie sich orientieren können, sodass
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