Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
Interessante Nebenaussage der Studie in diesem Punkt ist übrigens, dass sich diese Zahl keineswegs mit der Wahrnehmung der Eltern deckt. Statt zehn sind es hier nur fünf Prozent, die die Aussagen ihrer Kinder bestätigen und deren Schlafprobleme auch sehen. Auch hier scheint vielen Eltern offensichtlich bereits die natürliche Wahrnehmung ihres Kindes als Kind zu fehlen, denn die aus dem Schlafmangel resultierende Müdigkeit würde dann sehr wohl wahrgenommen werden. Gleiches Bild bzw. ein noch krasserer Unterschied, was die Tagesmüdigkeit angeht: 25 Prozent
der Neun- bis Elfjährigen klagen darüber, gelegentlich tagsüber von Müdigkeit heimgesucht zu werden, doch wiederum nur fünf Prozent der Eltern sehen diese Problematik in gleichem Maße.
In der Studie angeführte Gründe für die Schlafstörungen der Kinder sind »Licht- und Lärmbeeinträchtigungen«, PC- bzw. TV-Konsum vor dem Schlafengehen und last but not least: familiärer Stress. In ihrem Resümee kommen die Kölner Forscher u. a. zu der klaren Aussage: »Schlafstörungen bei Kindern beinhalten medizinische und gesellschaftliche Probleme, die der dringenden Bearbeitung bedürfen.«
Bereits angesprochen hatte ich das Thema Konfliktfähigkeit, an dem sich fehlende Entwicklung immer gut zeigen lässt. Ich sehe in den verschiedenen Zusammenhängen, in denen ich arbeite, ob Praxis, Heim, Kindergärten oder Schule, heute immer mehr Kinder, die die Folgen des eigenen Tuns nicht erkennen. Unsoziales Verhalten bis hin zur Straffälligkeit ist in diesen Fällen nicht selten. Es geht dabei auch keinesfalls um Disziplin und Ordnung. Diese Kinder und Jugendlichen reagieren nicht auf Strafen, denn das würde voraussetzen, dass sie verstehen, warum sie bestraft worden sind. Durch die fehlende psychische Entwicklung können sie jedoch genau das nicht leisten. Wenn man nachfragt, warum ein bestimmtes Fehlverhalten disziplinarische Konsequenzen nach sich gezogen hat, erhält man vom Jugendlichen in der Regel die Antwort, das wisse er nicht bzw. könne er sich auch gar nicht erklären. Sie fühlen sich dann ungerecht behandelt und unverstanden.
Dieses nicht altersangemessene Schuldbewusstsein ist keine Folge fehlender Erziehung, sondern ein logisches Ergebnis fehlender psychischer Entwicklung. Gäbe es diese
Entwicklung, könnte man beobachten, dass ein Kindergartenkind in Konflikten ganz natürlich noch häufig nicht so recht einzusehen vermag, dass es zu einem Streit wesentlich selbst beigetragen hat, während ein Jugendlicher ebenso natürlich sehr wohl beurteilen könnte, inwiefern er Schuld an einer Auseinandersetzung trägt und inwiefern ein anderer.
An dieser Stelle wird klar, dass nur die Betrachtung des großen Ganzen dazu führen kann, dass wir unseren Alltag, unser Verhalten und unsere Einstellung zu den Dingen reflektieren und neu justieren. Für sich betrachtet, mag der enorme Druck des Erwachsenen für diesen manchmal eine Belastung sein, er selbst und auch sein Umfeld werden diesen Umstand nahe liegend auf individuelle Gründe zurückführen, da wir zum Rationalisieren neigen. Die Vermutungen gehen dann beispielsweise in Richtung Familiensituation oder beruflicher Stress. Das ist ganz normal: Wir suchen häufig nach Gründen, warum wir etwas machen. Was uns nicht klar ist: Zu einem sehr hohen Prozentsatz stimmen diese Gründe nicht, so nachvollziehbar sie auch zunächst klingen mögen, da die wahren Beweggründe für unser Verhalten sich häufig auf einer für uns unbewussten und nicht zugänglichen Ebene befinden.
Manchmal erlebe ich auch, dass Eltern den Zustand im Hamsterrad als positiv erleben. Sie empfinden sich subjektiv als effizienter, da sie viel mehr am Tag erledigen könnten. Auch auf ihr Kind bezogen werten sie diesen Zustand als förderlich. Für Eltern, die sich solchermaßen im Hamsterrad halten, bietet es sich geradezu an, auch bei den Kindern für ständigen Hochbetrieb zu sorgen. Scheinbar rationale Gründe wie Erhöhung der Chancen des Kindes, Förderung seiner Talente und ähnliche Dinge finden sich da immer
schnell. Dass die emotionale und soziale Weiterentwicklung ihres Sohnes oder ihrer Tochter dabei auf der Strecke bleibt, merken sie gar nicht.
Letztlich hängt alles zusammen. Die Erkenntnis, dass dem Hamsterrad weniger individuelle Gründe als ein übergeordnetes gesellschaftliches Problem zugrunde liegt, wäre wichtig und entlastend für jeden Menschen, der diese Rotation spürt. Wenn also der Zusammenhang zwischen stark
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