Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
Erhöhung der Lipid- und Cholesterinwerte. All das gilt als Warnsignal für Diabetes, Herzerkrankungen oder auch Schlaganfälle.
Einer Studie der Techniker Krankenkasse zufolge fühlen sich bereits über 30 Prozent der Deutschen ständig oder häufig gestresst, und etwa 20 Prozent sind der festen Überzeugung, dass sich bereits gesundheitliche Folgen zeigen, die eindeutig dieser Stressbelastung zuzurechnen sind. Über die Hälfte davon klagt über ständige Erschöpfung und andere klassische Burn-out-Symptome. Die Häufigkeit von Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist bei diesen Stresspatienten etwa doppelt so hoch wie bei ihren nicht gestressten Zeitgenossen. Das ist eine dramatische Erkenntnis vor dem Hintergrund, dass Herz-Kreislauf-Erkrankungen nach wie vor die meisten Todesfälle in Deutschland auslösen. Stress ist also nicht einfach nur ärgerlich, er kann sogar tödlich sein.
Bedenkenswert ist auch die Tendenz, die sich aus der Krankenkassen-Studie ablesen lässt. Über die Hälfte der Befragten gab an, stetig steigendem Stress ausgesetzt zu sein, die Gruppe der unter 40-Jährigen ist dabei besonders gut vertreten. Gerade die Jüngeren sehen also zu einem großen Teil negativ in die Zukunft, was ihre Stressbelastung angeht, eine Erkenntnis, die sich mit dem Phänomen des Hamsterrades
sehr gut deckt. Entscheidend ist nun, die Verbindungslinien zu erkennen.
Grundsätzlich gilt: Der am wenigsten belastende Stress ist der, der gar nicht erst auftritt. Und der Stress, der durch das auf Katastrophe umgeschaltete Programm unserer Psyche entsteht, müsste eigentlich nicht entstehen. Er ist eine Art Phantomstress in dem Sinne, dass er auf Phantomängsten beruht. Dadurch, dass in der medialen Berichterstattung die größte Katastrophe die »beste« Katastrophe ist, weil über sie am meisten berichtet werden kann, gerät ein eigentlich wichtiger Faktor bei der Beurteilung von Gefahren stark in den Hintergrund. Gemeint ist die Wahrscheinlichkeit.
Es spielt heute kaum noch eine Rolle, wie wahrscheinlich ein Unglücksfall ist, relevant ist allein die in der Berichterstattung vermittelte schiere Größe des Unglücks. Und da gilt: Je größer, je schrecklicher, ja, je tödlicher das Unglück, desto besser die Bilder, desto entsetzter der Blick des Berichterstatters, desto imposanter die Zahlenflut der Statistiker.
Und desto größer unser Stress.
Unser Gehirn ist nicht darauf ausgelegt, mit kleinen Wahrscheinlichkeiten automatisch auch weniger Anlass zur Ausschüttung von Stresshormonen zu verbinden. Es wird mit den dramatischen Bildern und Erzählungen der Medien geflutet und vermutet dahinter eine gleichbleibend hohe Wahrscheinlichkeit, dass dieses Unglück auch im eigenen Bereich eintreten könnte.
Dazu ein Beispiel, das verdeutlicht, was ich meine:
Im April 2011 ereignete sich auf der A19 in Mecklenburg-Vorpommern ein grauenvoller Massenunfall, bei dem etwa 80 Autos ineinanderfuhren und acht Menschen ihr Leben auf der Straße ließen. Der Grund für diese Karambolage
waren plötzliche Sichtbehinderungen durch über die Autobahn wehenden Sand. Das Unglück schaffte es natürlich auf die Titelseite von Deutschlands größter Boulevardzeitung, es durchzog die TV-Nachrichten und schaffte es sogar in die sogenannten »Trending Topics« bei Twitter, einer Auflistung der Begriffe, die in einem bestimmten Zeitraum am häufigsten in Tweets benutzt wurden. Mit anderen Worten: Ein Entkommen war kaum möglich, welche Nachrichtenquelle auch immer man nutzte, die Konfrontation mit diesem Unfall war fast unvermeidlich.
Es kann davon ausgegangen werden, dass an den Tagen, an denen die Berichte über dieses Ereignis so richtig hochkochten, an anderen Stellen mindestens acht Menschen bei Verkehrsunfällen umkamen und mindestens 80 Fahrzeuge beschädigt wurden. Über diese Unfälle wurde sicherlich in der einen oder anderen Regionalzeitung berichtet, oft in den vermischten Schreckensmeldungen des letzten Tages.
Überlegen wir nun, was wohl wahrscheinlicher ist: ein Mega-Unfall wie der auf der A19 oder ein kleinerer mit weniger Schaden, so ist das eigentlich ganz klar. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich erneut genügend negative Umstände verketten, um einen Riesenunfall auszulösen, ist verhältnismäßig gering. Ein Toter, ein oder zwei kaputte Autos, das kommt leider häufiger vor.
Unserer Psyche ist das jedoch egal. Die Intensität der Berichterstattung über das relativ Unwahrscheinliche erzeugt in uns Panik, das diffuse,
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