Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
erhöhten sozialen Anforderungen und dem Terror durch Negativnachrichten klargeworden ist, lässt sich verstehen, wie sich dadurch in der Psyche der Hebel auf Katastrophenmodus umstellt. Würde dieser Hebel wieder in den Normalzustand zurückgestellt, würde das automatisch auch die Intuition zurückbringen, die vorher verloren gegangen ist. Und mit dieser Intuition wäre dem Kind gegenüber ein altersangemessenes Verhalten möglich, das diesem die Entwicklung erleichtert.
Nirgends ist innere Ruhe bei Erwachsenen so entscheidend wie im Umgang mit Kindern. Alle pädagogischen Bemühungen, Erziehungsstile und -modelle können sich nicht auswirken, wenn die Voraussetzungen für die Entwicklung der kindlichen Psyche nicht vorhanden sind.
Diese Zusammenhänge zu verstehen ist daher essenziell. Die gefühlte Überforderung des einzelnen Erwachsenen erscheint uns zunächst wie ein individuelles Problem, genauso, wie wir geneigt sind, Probleme mit Kindern der Erziehungshoheit der einzelnen Eltern zuzuweisen. Wir sehen jeden Tag, dass die hektische Suche nach irgendeinem »Ausgleichssport« oder Wellness-Urlaub nicht die Lösung für die Überforderung des Erwachsenen ist; genauso wenig, wie pädagogische Ideen grundlegende und nachhaltige Wirkung bei
Kindern mit Entwicklungsstörungen zeigen. Zu viele reformpädagogische Versuche sind in den letzten Jahren durchgeführt worden, ohne dass sich eine spürbare Verbesserung der Situation von Kindern und Jugendlichen eingestellt hätte. So viel, wie hier schon reformiert wurde, müsste mittlerweile eigentlich jeder Schulabgänger mit Kusshand in die Berufswelt übernommen werden. Das Gegenteil ist oft genug der Fall. Es wäre daher schön, wenn sich die Erkenntnis durchsetzen würde, dass anstelle der Erziehung die Entwicklung der Kinder stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit gehört.
Wie Langeweile Kreativität erzeugt
Wer Kinder hat, kennt die Situation und den dazugehörigen Spruch: »Mir ist soooo langweilig!« Das kann schon mal nervig sein, wenn man sich gerade darüber gefreut hat, dass sich das Kind für eine Weile alleine beschäftigt und man selbst sich um eigene Dinge kümmern kann. Aber haben Sie auch in letzter Zeit mal darüber nachgedacht, wann Sie selbst eigentlich diesen Spruch zuletzt benutzt oder auch nur gedacht haben? Wann war Ihnen das letzte Mal so richtig langweilig?
Anders gesagt: Wann hatten Sie das letzte Mal das Gefühl, nicht unbedingt jetzt gleich dieses und jenes erledigen zu können, sich eine Aktivität suchen zu müssen, um beschäftigt zu sein? Ein Bekannter brachte es neulich auf den Punkt, als ich ihn nach seiner Assoziation zum Thema Langeweile
fragte: »Langeweile?«, sagte er, »Langeweile gibt es heute eigentlich gar nicht mehr ...« Und seine Frau sagte spontan: »Das bringe ich eigentlich nur noch mit meiner Kindheit in Verbindung, es ist wie eine entfernte Erinnerung an verflossene Kindertage.«
Die meisten von uns werden, ähnlich wie mein Bekannter, feststellen, dass dieses Gefühl entweder sehr lange her ist oder zumindest in ihrem Leben nur noch extrem selten vorkommt. Und wir haben uns angewöhnt, diese Tatsache als positiv zu verstehen. Langeweile wird häufig als unproduktiv, peinlich, als Zeichen von Interesselosigkeit, depressiv, belastend für die Mitmenschen und noch so einiges andere empfunden. Wir tun uns sehr schwer, mit dem Begriff etwas Positives zu verbinden und wieder mehr Mut zur Langeweile zu haben.
Es ist für viele Menschen heute selbstverständlich, dass wir Zeiten der Langeweile als Zeitverschwendung verstehen. Wir sind uns stets der Tatsache bewusst, dass wir zuwenig Zeit haben, dass der Tag dringend mehr als 24 Stunden haben sollte, damit wir alles schaffen, was wir uns vorgenommen haben. Wenn dann Langeweile aufkommt, plagt uns sofort das schlechte Gewissen. Aus diesem Grund versuchen wir unbewusst, Langeweile zu eliminieren, sie zu bekämpfen wie eine lästige Krankheit.
Ich behaupte: Es ist Zeit für eine positive Wiederbelebung dieses Wortes und des damit zusammenhängenden Inhaltes. Das geht ganz einfach, wenn wir uns das Wort selbst anschauen und es in seine Bestandteile zerlegen. Lange-Weile, etwas dauert also länger als üblich, Zeit dehnt sich aus, der Mensch kann bei etwas verweilen, und zwar: lange. Dabei dient dieses Verweilen nicht unbedingt einem fest definierten
Ziel, sondern ist gewissermaßen Selbstzweck. Obwohl wir heute der Meinung sind, in Langeweile-Phasen verlören wir Zeit,
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