Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
Psyche die Stabilität, auch in der scheinbaren Katastrophe, sucht und so von selbst in den Widerstand gegen Veränderungen führt. Nein, eine Veränderung ist nur durch Verstehen möglich, über ein Bewusstsein für die Mechanismen, die uns ins Hamsterrad bringen.
Genau wie die Entwicklungsstörungen bei Kindern nur behoben werden können, wenn die Ursache dafür gesehen wird, genau so kann auch der Dauerstress und das Überforderungsgefühl bei Erwachsenen nur beendet werden, wenn man von der Symptomebene wegkommt.
Echter Stress und Phantomstress
Wenn der frühzeitliche Mensch auf der Jagd plötzlich vor einem Raubtier stand, hat ihm der Stress wohl meist das Leben gerettet. Das Warnsystem des Körpers versetzte ihn
nämlich in diesem Moment in die Lage, sofort zu reagieren und sich in Sicherheit zu bringen oder zum Gegenangriff überzugehen.
Auf Raubtiere trifft der moderne Büromensch aber eher selten. Mag einem auch bisweilen der eigene Chef oder die Kollegin als solche erscheinen, so laufen die typischen Körperreaktionen bei Stress doch heute ins Leere. Weglaufen oder angreifen ist keine Option, auf den Stress des 21. Jahrhunderts zu reagieren. Unser Körper weiß das jedoch nicht. Er tut weiterhin das, was er bei unseren Urahnen schon gemacht hat, und löst diverse biochemische Prozesse, so etwa die Produktion von Alarmstoffen wie Adrenocorticotropin, kurz ACTH, aus. ACTH gelangt über den Blutkreislauf in die Nebennierenrinde, dort wird die Produktion von Hormonen wie Kortisol, Adrenalin und Noradrenalin (im Nebennierenmark) angeregt, die klassischen Stresshormone. Puls und Blutdruck erreichen hohe Werte, der Atem geht schneller, um mehr Sauerstoff zur Verfügung zu stellen, und der Blutzuckerspiegel steigt (gibt viel Energie für Muskeln und Gehirn). Appetitlosigkeit kommt dazu. All diese Reaktionen dienten einst letztlich dem Zweck der kurzfristigen Aktivierung aller Muskelpartien, um sich körperlich der Bedrohung entgegenstemmen zu können. Gleichzeitig sinkt unsere Schmerzempfindlichkeit, und die Blutgerinnung verändert sich; das Blut wird dicker, um die Gefahr einer Verblutung im Verletzungsfall zu verringern.
Wohin nun mit diesen Körperaktivierungen, vor allem, wenn sie in immer kürzeren Frequenzen immer und immer wieder auftreten? Da es kein äußeres Ziel zum Abreagieren gibt, bleibt nur eine Option: Die – biologisch folgerichtigen – Stressreaktionen richten sich gegen den eigenen Körper. Ergebnis
sind Krankheitssymptome, die wir heute in stetig steigendem Maße finden: Magenprobleme, Kopfschmerzen, Muskelverspannungen, Erkrankungen des Herz- und Kreislaufsystems, dazu Depressionen und Angststörungen.
All diese Symptome sind zu einem großen Teil das Resultat der Tatsache, dass die Energie, die für den Körper durch die Stressreaktion bereitgestellt wird, nicht nach außen abfließen kann. Grob kann man bei akutem Stress drei Phasen der Körperreaktion unterscheiden:
– Alarm
– Reaktion
– Bewältigung
In der Alarmphase hat der Körper den Stressfaktor registriert und beginnt damit, sich auf die Reaktion vorzubereiten, d. h., er schüttet die bereits genannten Hormone aus, fährt gewissermaßen die Abwehrsysteme hoch.
Während der Reaktionsphase ist alles im Körper auf Hochbetrieb, um entweder kämpfen oder flüchten zu können (der amerikanische Physiologe Walter Cannon prägte bereits 1915 dazu den Terminus »fight or flight«). Bis hierhin gleichen die Stressphasen unserer Vorfahren den unseren.
Die Bewältigungsphase ist diejenige, die den Körper wieder zur Ruhe kommen lässt. Der Stress ist vorbei, konnte durch den Abfluss der aufgebauten Energie aktiv abgewendet werden; der Hormonpegel reguliert sich auf ein Normalmaß, und die Energiespeicher können wieder aufgefüllt werden.
Diese dritte und letzte Phase stellt heute das kritische Moment dar. Sie fehlt, wenn einerseits die Energie nicht nach außen abfließen kann und andererseits der Stress gleichbleibend
hoch ist. Dagegen hilft heute eigentlich nur noch Sport, der gewissermaßen die Bewältigungsphase simuliert und dafür sorgt, dass die aufgestaute Energie abfließen kann. Der Daueralarm, in dem der Körper sich befindet, wenn die Energie nicht abfließt, macht uns krank, weil wir permanent unter Strom stehen. Untersucht man Patienten, die mit Erschöpfungssymptomen zum Arzt kommen, so lässt sich häufig eine größere Anzahl von sogenannten Entzündungsbiomarkern im Blut feststellen, bei gleichzeitiger
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