Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
ungerichtete Gefühl, einer ähnlichen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Wir sind nicht mehr in der Lage, wirklich zu differenzieren und uns ganz kühl überlegend zu sagen: »Eine Wiederholung eines solch schlimmen Unfalls auf einer meiner Autofahrten ist so unwahrscheinlich,
dass mir daraus kein Stress entstehen muss.« Das wäre, vernünftig betrachtet, die richtige Reaktion, die unsere Psyche schützen und die Ausschüttung von Stresshormonen niedrig halten würde.
Leider ist es so, dass damit jener Phantomstress entsteht, den wir nicht wie beschrieben abbauen können, weil der Stresspegel in der Kombination von alltäglichen Belastungen und der Beschallung mit Negativnachrichten gleichbleibend hoch ist. Dieser Phantomstress sorgt für das Umlegen des Hebels in unserer Psyche. Es entsteht das Bedürfnis, das Stressniveau zu erhalten, und die Wahrscheinlichkeit, Dinge mit innerer Ruhe und Intuition anzugehen, sinkt.
Heute, wo unserer Psyche also jeden Tag Phantomkatastrophen vorgegaukelt werden und wir gleichzeitig vor viel mehr sozialen Überforderungssituationen stehen als früher, verhalten wir uns, als wenn wir jeden Tag ein großes Erdbeben mit zehn bis 30 Nachbeben erleben würden. Dieses Verhalten treibt uns ins Hamsterrad und hält uns dort.
Tragisch daran ist letztlich vor allem, dass diese Umstände sich so fatal auf unser Verhältnis zu den Kindern auswirken. Der katastrophengeschädigte Erwachsene kompensiert dieses Defizit unbewusst über die Beziehung zum Kind, indem er entweder geliebt werden will (Projektion) oder, wie ich es heute in der Mehrzahl der Fälle sehe, psychisch mit dem Kind verschmilzt (Symbiose) und damit stellvertretend für das Kind denkt, fühlt und handelt, es somit sehr häufig zu steuern und zu bestimmen versucht. Das wiederum führt dazu, dass der Erwachsene sich auf Machtkämpfe mit dem Kind einlässt, die er nicht gewinnen kann. Das Kind verweigert und erzeugt im Erwachsenen noch größeren Druck, den dieser wiederum an das Kind weitergibt, indem er versucht,
sich mit allen Mitteln durchzusetzen. Das ist der fatale Kreislauf, der im Rahmen der Symbiose entsteht.
Gerade in der Beziehungsstörung der Symbiose ist es ganz offensichtlich: Der erwachsene Mensch ruht nicht mehr in sich und erlebt sich damit auch gegenüber dem Kind nicht mehr abgegrenzt und besonnen, sondern er ist »außer sich«, greift damit auch bildlich gesehen in den Bereich des Kindes ein, und zwar unabhängig von dessen Alter. Das führt beispielsweise zum Phänomen der »Helicopter Parents«, derjenigen also, die ständig über ihren Kindern »kreisen« und sich scheinbar selbstlos für sie einsetzen. Wobei selbstlos in diesem Kontext auch wieder so ein verräterisches Wort ist. »Der Erwachsene ist sein Selbst los« wäre nämlich auch eine passende Beschreibung für die Verhaltensweise im Angesicht der Katastrophe. Dort geht es ja nicht mehr um eine aus dem Selbst entstehende Handlungsweise, sondern man ist in Gefahr, nur noch aus einer Ohnmacht und Überforderung heraus zu reagieren.
Immer mal wieder sind in den Medien Meldungen zu hören, über die man im ersten Moment schmunzeln mag, die aber auf ein Verhalten von Eltern hinweisen, die sich unbewusst in einer Symbiose mit ihrem Kind befinden. So kamen im Mai 2011 Überlegungen auf, bei Jugendfußballspielen Eltern mindestens fünf Meter hinter die Spielfeldbegrenzung zu verbannen, um zu verhindern, dass fremde Kinder beleidigt, Schiedsrichter angegriffen und ständig unflätige Dinge gegrölt werden. Das alles aus der Feststellung heraus, dass diese Phänomene zuletzt überproportional zugenommen hatten. Auch hier: Symbiose. Der schreiende Vater denkt und handelt stellvertretend für sein Kind, das er auf dem Spielfeld schlecht behandelt sieht, sei es durch
ein Foul eines anderen Kindes oder eine falsche Schiedsrichterentscheidung. Wir haben es hier mit dem gleichen Phänomen zu tun wie an Schulen, wo Lehrer und Schulleiter mittlerweile regelmäßig direkt von Eltern angegangen werden, ohne dass das Verhalten des eigenen Kindes überhaupt auch nur in Frage gestellt werden würde.
All diese Erscheinungen würden weniger werden, wenn es gelänge, die Psyche aus dem Katastrophenmodus zu holen und zur Intuition zurückzukehren.
Es dreht und dreht und dreht. Wie Kinder den Alltag erleben, wenn ihre Eltern sich im Hamsterrad befinden
Ich habe im Einstiegskapitel versucht zu erklären, warum ich als Kinderpsychiater dieses Buch schreibe, das sich
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