Lasst Kinder wieder Kinder sein - Winterhoff, M: Lasst Kinder wieder Kinder sein
ihre Psyche sich entwickeln kann. Beides hängt zusätzlich noch zusammen.
Bei einer altersgemäßen Entwicklung der Psyche lernen Kinder nach und nach, äußere Eindrücke zu filtern und bestimmte Dinge auszublenden. Als Erwachsene machen wir das tagtäglich, sonst könnten wir gar nicht mehr durch den Tag kommen. Das geht aber nur, weil sich unsere Psyche im Kindesalter langsam in diese Richtung entwickeln konnte. Den Schulkindern, die in der Symbiose aufwachsen, fehlt diese Filtermöglichkeit, weil sie auf dem psychischen Entwicklungsstand eines Kleinkindes, auf dem sie sich befinden, noch nicht vorgesehen ist.
In der Folge kommt es zu vielen Schwierigkeiten, von denen ich zwei zentrale hier benennen will:
– Reizüberflutung: Die Kinder sind nicht in der Lage, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Alle Eindrücke stürzen auf sie ein und vermengen sich so, dass entscheidende Dinge nicht wahrgenommen werden. Nach außen wirkt das häufig so, als ob diese Kinder nicht zuhören könnten oder sich nicht interessieren würden.
– Fehlendes Erkennen von Zusammenhängen: Die Kinder können beispielsweise nicht aus Konflikten lernen. Verhaltensorientierte Reaktionen des Erwachsenen zeigen damit keine Wirkung.
In einer angespannten Situation, etwa, wenn der Erwachsene es eilig hat, reagieren sie wie Kleinkinder. Um das zu verstehen, kann man sich vorstellen, wie ein kleines Kind reagiert, wenn man zu einem Termin fahren muss und es deshalb aus dem Spiel reißt. Es wird aller Wahrscheinlichkeit nach heftig
protestieren, weinen und schreien, weil die Spannung des Erwachsenen in diesem Alter vom Kind nicht positiv aufgenommen werden kann, sondern das gegenteilige Verhalten bewirkt. Bei einem Achtjährigen sollte das eigentlich anders sein. Bei einer altersgemäßen Entwicklung wäre er in der Lage zu spüren, dass die Mutter in Eile bzw. unter Druck ist, und würde sich darauf einstellen. Stattdessen haben wir jedoch immer mehr Kinder im Grundschulalter, die auf Zeitdruck in einer Weise reagieren, die eigentlich ins Kleinkindalter gehört. Würde man diesen Kindern sagen, sie sollten sich bitte etwas beeilen, weil man schnell los wolle, so machen sie gerade dies nicht, sondern sind in Gefahr, auszuflippen.
Die Kinder sind durch den permanenten Druck von außen in ihrem frühen Alter bereits in einer sehr realen Stress-situation, was sich auf die Entwicklung ihrer Psyche äußerst negativ auswirkt. Sie entwickeln, wie bereits beschrieben, langsamer als Altersgenossen Sinn für Zusammenhänge, ebenfalls eine Fähigkeit, die für das Verhalten in Konflikten von entscheidender Bedeutung ist. Die Psyche dieser Kinder erlebt ein Spannungsfeld stetiger Überforderung. Dabei bedürfte es eigentlich genau des Gegenteils. Struktur, Ruhe, gleiche Abläufe wären wichtig, um dem Kind eine stabile Entwicklung zu ermöglichen.
Deutlich wird daran auch noch einmal, dass wir es hier nicht mit pädagogischen Fragestellungen zu tun haben. Es geht nicht um ein Verhalten, das man anerziehen muss. All das entwickelt sich eigentlich automatisch, wenn der Erwachsene gegenüber dem Kind in der Intuition ist. Intuitiv weiß eigentlich jede Mutter, jeder Vater, dass man für die abendlichen Abläufe bis zum Schlafengehen eine gewisse
Zeit brauchen wird. Damit wäre im Grunde klar, ohne das rational zu entscheiden, dass man mit Abendessen, Waschen, Zähneputzen, Vorlesen usw. zu einer Zeit beginnt, die ausreicht, um alles in Ruhe zu erledigen. Werden diese Abläufe nicht mehr intuitiv begleitet, weil die Eltern nicht in sich ruhend sind, sondern im Hamsterrad, sieht die Sache anders aus. Abläufe sind oft willkürlich, nach äußeren Einflüssen gerichtet; gegessen wird zwischendurch, vielleicht isst noch jedes Familienmitglied für sich allein, selbst bei Kleinkindern. Die Vorbereitungen für den anstehenden Schlaf unterliegen damit einem Zeitdruck. Mit dem gleichen Druck, mit dem sie morgens schon geweckt worden sind, gehen diese Kinder dann abends ins Bett, das Kind ist gestresst. Es ist somit kein Wunder, dass Schlafstörungen schon im Kindesalter in den letzten Jahren merklich zugenommen haben. Die »Kölner Kinderschlafstudie« hat hierzu beispielsweise einige interessante Fakten gesammelt.
So stellten die Forscher der Uni Köln fest, dass Schlafstörungen bereits bei Kindern im Grundschulalter wesentlich verbreiteter sind als angenommen. Von den befragten Viertklässlern klagten bereits zehn Prozent über manifeste Schlafstörungen.
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