Lasst Knochen sprechen: 3. Fall mit Tempe Brennan
den Tisch herum, damit wir sie gemeinsam betrachten konnten.
Kräftig war eine Untertreibung. Die zum Teil kopflose Gestalt, die ich in dem Sessel gesehen hatte, war nur ein schwacher Abklatsch des Körpers, der einst Cherokee Desjardins beherbergt hatte. Bevor der Krebs ihm die Eingeweide ausgedörrt hatte und Drogen und Chemotherapie ihre Wunder vollbracht hatten, war der Mann enorm gewesen, allerdings auf schwabbelige, schmerbäuchige Art.
Die Polizeifotos überspannten mehrere Jahre. Bärte kamen und gingen, und der Haaransatz wurde immer höher, aber Bauch und Gesichtszüge veränderten sich kaum.
Bis der Krebs zuschlug.
Sechs Monate vor seinem Tod war Cherokee nur noch ein Schatten seiner selbst, kahl und todeslagerdünn. Wenn das Foto nicht beschriftet gewesen wäre, hätte ich ihn nicht als denselben Mann erkannt.
Während ich mir das Gesicht auf den verschiedenen Fotos ansah, fiel mir ein Zitat von Marlon Brando ein. Ich habe Augen wie die eines toten Schweins, hatte der alternde Schauspieler über sich selbst gesagt.
Denk dir nichts, Marlon. Sie haben dir gute Dienste erwiesen. Dieser Kerl schaute einfach nur hasserfüllt drein und so gemein wie ein Straßenköter mit einem gestohlenen Steak.
Aber sosehr wir uns auch bemühten, wir konnten nicht bestimmen, ob unser verstorbener, aber unbetrauerter Cherokee der Mann mit der Gürtelschnalle in Myrtle Beach war.
30
Ich nahm die Cherokee-Fotos, und wir gingen den Gang entlang zu einer Abteilung mit der Bezeichnung Imagerie. Wir hatten beschlossen, dass ich das Bild mit Adobe Photoshop bearbeiten sollte, da mir dieses Programm vertraut war. Sollte sich das als ungenügend erweisen, würde ein Techniker uns mit raffinierterer Grafiksoftware weiterhelfen.
Wir wurden erwartet, und die Geräte standen uns sofort zur Verfügung. Der Techniker schaltete den Scanner ein, aktivierte das entsprechende Programm und ließ uns dann freie Hand.
Ich legte den Schnappschuss auf den Flachbettscanner, digitalisierte das Bild und speicherte es auf der Festplatte ab. Dann öffnete ich die Datei mit dem Myrtle-Beach-Picknick.
Ich klickte Mister Gürtelschnalles Gesicht an und vergrößerte es. Dann gab ich den Befehl, Staub und Knicke im eingelesenen Foto zu tilgen, modifizierte die Farbdarstellung, optimierte Helligkeit und Kontrast und schärfte die Ränder der Darstellung.
Claudel sah zu, wie ich die Befehle eintippte. Anfangs schwieg er, doch dann fing er an, Vorschläge zu machen, und ich merkte, wie, trotz seiner anfänglichen Skepsis, sein Interesse wuchs. Ich optimierte die Helligkeitsverteilung und die Definition von Umrissen und Flächen und förderte so Details zu Tage, die auf dem Schnappschuss selbst nicht zu sehen gewesen waren.
Nach knapp einer Stunde lehnten wir uns zurück und betrachteten das Ergebnis. Es gab keinen Zweifel mehr. Mister Gürtelschnalle war wirklich Yves »Cherokee« Desjardins.
Aber was bedeutete das?
Claudel sprach als Erster.
»Also kannte Cherokee das Osprey-Mädchen.«
»Sieht so aus«, erwiderte ich.
»Und Dorsey hat ihn umgebracht.« Claudel dachte laut. »Was glauben Sie, wollte Dorsey uns verkaufen?«
»Vielleicht hatte Cherokee Savannah umgebracht, und Dorsey wusste es.«
»Könnte sie mit ihm hierher gekommen sein?« Wieder war es ein ausgesprochener Gedanke, kein Gesprächsbeitrag.
Ich stellte mir das verwirrte kleine Gesicht vor, die Augen, die durch dicke Brillengläser in die Welt schauten. Ich schüttelte den Kopf.
»Nicht freiwillig.«
»Er könnte sie in Myrtle Beach umgebracht und dann die Leiche nach Quebec geschafft haben.«
»Warum sie so weit transportieren?«
»Das Risiko einer Entdeckung ist geringer.«
»Wäre das typisch für diese Kerle?«
»Nein.« In seinen Augen konnte ich Verwirrung sehen. Und Wut.
»Und wo ist der Rest von ihr?«, fragte ich weiter.
»Vielleicht hat er ihr den Kopf abgeschnitten.«
»Und die Beine?«
»Diese Frage dürfen Sie mir nicht stellen.« Er schnippte ein unsichtbares Staubkörnchen von seinem Ärmel und schob sich dann die Krawatte zurecht.
»Und wie landete sie in einem Loch neben Gately und Martineau?«
Claudel antwortete nicht.
»Und wessen Skelett wurde in Myrtle Beach gefunden?«
»Das müssen Ihre Freunde vom SBI beantworten.«
Da Claudel dieses eine Mal gesprächsfreudig schien, beschloss ich, den Einsatz zu erhöhen. Ich wechselte die Richtung.
»Vielleicht war der Mord an Cherokee gar kein Racheakt.«
»Ich weiß nicht, worauf Sie
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