Lasst Knochen sprechen: 3. Fall mit Tempe Brennan
dass Harry die Sanitäter ihrer Gegend während seiner Kindheit mit den Vornamen anredete.
Hatte Kit nur immer zu Hause gesessen, oder war er mit Lyle Crease unterwegs gewesen? Oder dem Preacher? Oder der Hyäne? War er, wenn ich zu Hause war, nur so lethargisch, weil er müde war?
Noch einen Schluck Tee. Inzwischen lauwarm.
Ich stellte mir die zwei Männer hinter blutbespritztem Plastik vor, und nicht einmal der Tee konnte mein Frösteln vertreiben.
Machte ich einen Fehler? Wenn Kit eine schwere Zeit durchmachte, konnte ich da einen positiven Einfluss auf ihn ausüben? Wenn er in irgendetwas Gefährliches verwickelt war, wäre es sicherer, wenn ich ihn bei mir behielt?
Nein. Die Gesamtsituation machte das einfach zu riskant. Ich würde mich an meinen Plan halten. Mein Neffe würde in Texas sein, bevor George Dorseys Leiche unter der Erde war.
Als der Morgen über den Horizont kroch, legte sich eine sanfte Helle über meinen Garten, färbte Bäume, Hecken und die Ziegelhäuser auf der anderen Straßenseite. Ecken und Kanten wurden weicher, bis die Stadt einer Landschaft von Winslow Homer glich. Ein sanftes Aquarell, der perfekte Hintergrund für ein Bandenbegräbnis.
Ich schüttete den Rest meines Tees auf den Rasen und ging hinein, um meinen Neffen zu wecken.
Sein Zimmer war leer.
37
Eine Notiz klebte am Kühlschrank. Ich las sie, wo sie war, da ich meinen zitternden Händen nicht traute.
Vielen Dank für alles. Mach dir keine Sorgen. Ich bin bei Freunden.
Freunden?
Mein Herz war wie tot in meiner Brust.
Ich sah auf die Uhr. In weniger als einer Stunde würde das Dorsey-Begräbnis beginnen.
Ich rief Claudels Piepser an, kochte dann Kaffee, zog mich an und machte das Bett.
Sieben Uhr fünfzehn.
Ich trank Kaffee und zupfte an einem Niednagel.
Die Erde drehte sich. Tektonische Platten verschoben sich. Zwölf Morgen Regenwald verschwanden für immer von diesem Planeten.
Ich ging ins Bad, kämmte mich, legte Make-up und ein bisschen Rouge auf und ging wieder in die Küche, um eine zweite Tasse zu trinken.
Sieben Uhr dreißig. Warum meldete Claudel sich nicht?
Noch einmal ins Bad, wo ich meine Haare befeuchtete und neu kämmte. Ich griff eben nach der Zahnseide, als das Telefon klingelte.
»Ich hätte nicht gedacht, dass Sie so eine Frühaufsteherin sind.« Claudel.
»Kit ist verschwunden.«
»Cibole!«
Im Hintergrund konnte ich Verkehrslärm hören.
»Wo sind Sie?«
»Vor der Kirche.«
»Wie sieht’s aus?«
»Wie eine Vollversammlung der Todsünden. Faulheit und Habgier sind gut vertreten.«
»Ich nehme an, Sie haben ihn nicht gesehen.«
»Nein, aber in diesem Getümmel könnte ich sogar Fidel Castro übersehen. Sieht aus, als wäre jeder Biker des Kontinents hier.«
»Crease?«
»Keine Spur.«
Ich hörte, wie er kurz den Atem anhielt.
»Was ist?«
»Charbonneau und ich haben den Kerl noch ein bisschen eingehender überprüft. Von ‘83 bis ‘89 spielte Lyle Crease Auslandskorrespondent, nicht Geheimagent. Aber die einzigen Meldungen, die er ablieferte, waren die bei dem Wärter seines Zellenblocks.«
»Er hat gesessen?«
»Sechs Jahre, südlich der Grenze.«
»Mexiko?«
»Juárez.«
Mein Herz kehrte wieder ins Leben zurück und pochte in meiner Brust.
»Crease ist ein Mörder, und Kit ist vielleicht bei ihm. Ich muss etwas tun.«
Claudels Stimme wurde so kalt, wie es nur die Stimme eines Polizisten werden kann.
»Denken Sie nicht einmal daran, auf eigene Faust was zu unternehmen, Ms. Brennan. Diese Biker sehen aus wie Haie, die im Wasser nach Blut schnuppern, und es könnte hier ziemlich rau werden.«
»Und Kit könnte in diesen Blutrausch hineingezogen werden!« Ich hörte, wie meine Stimme brach, und hielt inne, um mich zu beruhigen.
»Ich schicke einen Streifenwagen zu Creases Wohnung.«
»Glauben Sie, dass er auch zu der Beerdigung kommt?«
»Wenn er auftaucht, nehmen wir ihn fest.«
»Und wenn ein neunzehnjähriger Junge dabei mit verhaftet wird?« Ich schrie beinahe.
»Ich sage nur, dass Sie nicht herkommen sollen.«
»Dann finden Sie diesen Mistkerl.«
Ich hatte kaum aufgelegt, als ich mein Handy hörte.
Kit!
Ich rannte ins Schlafzimmer und zog es aus meiner Handtasche.
Die Stimme war zitterig, wie die eines Kindes nach ausführlichem Weinen.
»Sie müssen wissen, was die vorhaben.«
Zuerst war ich verwirrt, dann erkannte ich die Stimme, und mich beschlich ein ungutes Gefühl.
»Wer, Jocelyn?«
»Jemand muss wissen, was diese Heathens-Schweine
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