Lauf, wenn du kannst
Decken, Kissen und Federbetten. Nathan wünschte, er wäre größer und stärker gewesen. Ein normaler, gesunder Junge eben, denn dann hätte er es wahrscheinlich geschafft, bis nach oben in den Schrank zu klettern, um sich über dem Kopf des bösen Mannes zu verstecken.
Aber das kam für Nathan nicht in Frage. Also wühlte er sich einfach bis in die hinterste Ecke der kleinen Kammer durch, schloss die Tür, bedeckte sich mit Daunenkissen und bemühte sich, möglichst nicht zu niesen.
Und nun wartete er. Ganz allein. In der Dunkelheit.
Der böse Mann näherte sich.
»Mommy ...«, flüsterte Nathan.
Catherine hatte Bobbys blutende Schulter mit dem Kopfkissenbezug verbunden. Das sah zwar ziemlich albern aus und fühlte sich auch so an, aber mehr war im Moment nicht möglich. Beide Pistolen lagen neben Bobby auf dem Bett, damit er sie schnell erreichen konnte, falls Umbrio zurückkam. Doch als Catherine Bobbys verletzte Schulter betrachtete, fragte sie sich, ob ihnen die Waffen wirklich etwas nützen würden.
Als Nächstes beschäftigte sich Catherine mit James, der noch ausgestreckt auf dem Boden lag. Unter ihm bildete sich eine Blutlache, während seine Lungen ein unheilverkündendes Pfeifen von sich gaben, das an Luft erinnerte, die aus einem Ballon entweicht.
Maryanne hielt seinen Kopf auf dem Schoß und streichelte seine Wange. Lautlose Tränen liefen ihr über die Wangen. Als Catherine näher kam, hob er den Kopf und sah sie flehend an. Aber Catherine konnte nichts für sie tun. Die Richter lag im Sterben, und das war ihnen allen bewusst.
Der Richter blickte zu Catherine hinauf, und die beiden starrten einander eine schiere Ewigkeit an.
Wie gerne hätte Catherine etwas empfunden. Sie wollte etwas fühlen. Triumph. Siegestaumel. Genugtuung. Aber da war nichts als eine grenzenlose Leere.
»Inzwischen weiß ich, was ihr getan habt«, sagte Catherine schließlich mit eigenartig tonloser Stimme. »Ein Genetiker hat endlich herausgefunden, was Nathan fehlt. Mein Sohn leidet an einer seltenen Erbkrankheit, die nur in Familien mit Fällen von Inzest auftritt.«
Maryanne stieß einen leisen Schrei aus und schlug die Hand vor den Mund. Catherine betrachtete ihre Schwiegermutter, und endlich regte sich die erste Emotion: eiskalte Wut.
»Warum habt ihr mir das verschwiegen? Als Nathan anfing, die ersten Symptome zu entwickeln, hättet ihr doch sofort ...«
»Es tut mir so leid ...«, begann Maryanne.
»Seid ihr Cousins?«, fiel Catherine ihr ärgerlich ins Wort.
»Halbgeschwister«, gestand Maryanne, und ihre Worte überschlugen sich, als sie hinzufügte: »Aber wir sind nicht zusammen aufgewachsen und wussten gar nicht, dass wir Bruder und Schwester sind. Nach dem Tod von James’ Mutter schickte sein Vater ihn an eine Militärakademie. Später überwarfen sie sich, und James beschloss, im Norden zu bleiben. Doch nach einigen Jahren bemühte sich mein Vater endlich um eine Versöhnung. Er lud James ein, damit dieser seine neue Familie kennenlernte. Ich wurde gerade achtzehn. Meine Eltern veranstalteten eine große Feier, und plötzlich kam ein unbeschreiblich gut aussehender Mann herein ...«
James’ Hand krampfte sich um ihre. Sofort beugte sich Maryanne vor, um seine Wange zu streicheln. Catherine jedoch fühlte sich von dieser zärtlichen Geste abgestoßen. Sie waren Geschwister?
»Er hat deine Familie umgebracht«, sagte Catherine zu Maryanne.
»Mach dich doch nicht lächerlich. Es war ein Unfall ...«
»James hat dafür gesorgt, dass dieser Unfall passiert ist, Maryanne. Er hat den Tod deiner ganzen Familie arrangiert, damit er dich für sich haben konnte. So wie er deinen Erstgeborenen getötet hat, um zu verhindern, dass die Ärzte euer kleines Geheimnis entdecken. Und nun hat er einen verurteilten Pädophilen auf freien Fuß gesetzt und damit beauftragt, Nathan und mich zu ermorden. Welche Erklärung hast du denn dafür, dass alle Menschen in deiner Umgebung sterben, Maryanne? Bist du denn wirklich so naiv?«
Catherines Stimme war gefährlich laut geworden. Kopfschüttelnd ließ Maryanne den Wortschwall über sich ergehen, während James schwach stöhnte.
»Ich ... habe sie geliebt«, keuchte er.
»Geliebt?«, zischte Catherine. »Du hast unschuldige Menschen umgebracht. War es beim ersten Mal einfach? Man doktert an den Bremsen des Familienautos herum und sagt sich anschließend, dass Unfälle eben vorkommen?«
»Das ... verstehst du nicht.«
»Und anschließend war der Weg für
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