Lauf, wenn du kannst
euch frei, um nach Boston zu kommen und noch einmal von vorne anzufangen, ohne dass je ein Mensch von eurem schmutzigen kleinen Geheimnis erfährt. Nur, dass ihr irgendwann ein Kind bekommen habt und dass die Genetik euch verriet. Litt euer erster Sohn auch an Fanconi-Bickel? War es vielleicht ein schwerer Fall? Immer schwächlich, immer krank?«
»Ich begreife das alles nicht«, flüsterte Maryanne mit zitternder Stimme. »Junior ist doch am plötzlichen Kindstod gestorben.«
»Oder weil ihm jemand ein Rissen ins Gesicht gedrückt hat.«
»James?«, wimmerte Maryanne.
»Ich ... liebe dich«, sagte der Richter wieder, aber nun schwang etwas Flehendes in seinem Tonfall mit, das noch eindeutiger war als ein klares Schuldeingeständnis. Maryanne brach wieder in Tränen aus.
»O nein ... o nein, o nein.«
Aber Catherine war noch nicht fertig. »Ihr habt Jimmy gegen mich aufgehetzt, ihm schreckliche Ideen eingeflüstert und mich gezwungen, unaussprechliche Dinge zu tun. Wie konntet ihr nur? Wir hätten an einem Strang ziehen und Nathan helfen können. Vielleicht wären wir sogar glücklich geworden.«
»Mein Sohn«, erwiderte James mit klarer Stimme, »war immer ... zu gut ... für dich.«
»James!«, stieß Maryanne hervor.
»Du alter Narr«, gab Catherine in eisigem Ton zurück. »Du hast Umbrio freigelassen, und jetzt wird er uns alle umbringen.«
»Polizei ... bald hier«, murmelte der Richter.
Doch im nächsten Moment war aus dem Flur Umbrios Stimme zu hören: »Nathan, Nathan, Nathan. Komm raus aus deinem Versteck.«
»Aber wahrscheinlich nicht mehr rechtzeitig«, meinte Bobby leise zu den Anwesenden.
Mr Bosu hatte die Faxen satt. Die Vorstellung, dem Hotel des Richters einen Besuch abzustatten, hatte ihm gefallen, und sein eigentlicher Plan war gewesen, dem Mann ein bisschen zuzusetzen, um auf diese Weise an sein Geld zu kommen. Natürlich gab es da noch die Alternative, den Richter eigenhändig umzulegen, um sich Genugtuung zu verschaffen. Aber schließlich war Mr Bosu ja flexibel.
Allerdings war alles schief gelaufen. Ja, er hatte Gelegenheit erhalten, sich zu rächen, doch das erhoffte Hochgefühl war ausgeblieben. Vielleicht wurde ja sogar das Morden nach einer Weile langweilig. Keine Ahnung. Und nun liefen die Ehefrau und der Junge weiter quicklebendig herum, und außerdem war inzwischen Catherine erschienen – mit einem anderen Mann.
Mr Bosu hätte so gerne Aufregung empfunden. Doch eigentlich war er nur müde. Zum Teufel mit seinem Plan, sie alle zu töten. Er würde sich auf ein letztes Opfer beschränken, und zwar das, dessen Tod die schwerwiegendsten Folgen haben würde.
Er wollte den Jungen.
Nur den Jungen.
Und dann würde er sich aus dem Staub machen.
Mr Bosu hatte den linken Flügel der palastähnlichen Suite bereits gründlich abgesucht. Im Schlafzimmer hatte er die Schmuckschatulle der Frau ausgeräumt und außerdem ein Bündel Geldscheine gefunden. Nun wandte er sich dem rechten Flügel zu. Wo würde er sich als vierjähriger Junge verstecken?
In einer dunklen Höhle. Nein. Moment mal. Der Junge besaß Dutzende von Nachtlichtern. Offenbar fürchtete er sich vor der Dunkelheit.
Mr Bosus Blick fiel auf die Lamellentüren des Wandschranks im Flur. Aber natürlich. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
40
Wir brauchen einen Plan«, sagte Catherine und sah Bobby an, der sich mühsam auf dem Bett hochsetzte.
»Was sollen wir tun?«, flüsterte Maryanne, die immer noch auf dem Boden saß, verzweifelt. »James ist verletzt. Sie sind verletzt. Was sollen wir tun?«
»Das Schießen ist für mich kein Problem«, erwiderte Bobby ruhig. »Ich übe ständig mit der linken Hand.«
Catherine nickte, hob beide Pistolen vom Bett auf und reichte ihm eine. »Gut. Sie nehmen eine Waffe und ich die andere.«
»Sie schießen miserabel«, erwiderte Bobby ernst.
»Tja, dann muss ich eben dafür sorgen, dass ich nahe genug an ihn herankomme. Jagen wir ihn? Funktioniert dieses Spiel so?«
Sofort schüttelte Bobby den Kopf. »Ich möchte nicht, dass wir uns trennen. Bei zwei gegen einen erhöhen sich unsere Chancen. Außerdem wäre es unangenehm, wenn einer von uns versehentlich den anderen erschießt.«
»Wenn wir beide den Flur hinunter stürmen, fällt das Überraschungsmoment flach.«
»Also lassen wir es besser bleiben und locken ihn zu uns.«
»Und wie?«
Bobby blickte Catherine in die Augen. »Tja, Catherine, Sie kennen ihn am besten.«
Sie nickte langsam.
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