Lauf, wenn du kannst
ich nicht.«
»Haben Sie Ihrem Vater denn nie Frage über Ihre Mutter gestellt?«
»Schon lange nicht mehr.«
Er stellte die zerknickte Dose weg und sah Elizabeth vielsagend an. »Jetzt löchern Sie mich doch mit meiner Familie.«
»Stimmt. Gut, Sie sind also Polizist geworden, weil Ihnen das mit dem Astronauten zu kompliziert erschien. Warum in eine taktische Einheit?«
»Die Herausforderung.« Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.
»Wollten Sie Scharfschütze werden? Hatten Sie schon immer eine Schwäche für Waffen?«
»Ich hatte davor noch nie ein Gewehr abgefeuert.«
Endlich war es ihm gelungen, sie zu überraschen. »Bevor Sie zu STOP kamen, hatten Sie noch nie ein Gewehr in der Hand?«
»Richtig. Mein Vater sammelt zwar Waffen und fertigt Maßarbeiten an, aber dabei handelt es sich nur um Pistolen. Offen gestanden schießt auch mein Vater nicht unbedingt gern. Er hat einfach Spaß daran, an den Pistolen herumzubasteln. Ihn interessieren die Technik und die Ästhetik eines schönen Sammlerstücks.«
»Und wie sind Sie Scharfschütze geworden?«
»Ich war gut darin.«
»Sie waren gut darin?« Er seufzte auf. »Bevor man in die taktische Einheit aufgenommen wird, muss man Schießprüfungen mit einer Reihe verschiedener Waffen ablegen. Ich habe mir das Gewehr geschnappt und kam auf Anhieb damit klar. Nach ein bisschen Übung war ich so gut wie die Experten. Also hat mich mein Lieutenant gefragt, ob ich Scharfschütze werden will.«
»Also sind Sie, was Waffen angeht, ein Naturtalent?«
»Wahrscheinlich.« Allerdings machte ihn diese Vorstellung beklommen, weshalb er sofort etwas hinzufügte. »Wenn man Scharfschütze ist, muss man mehr können als nur schießen. Der offizielle Titel lautet Scharfschütze-Beobachter.«
»Das müssen Sie mir näher erklären.«
Er beugte sich vor und breitete die Hände aus. »Gut. Einmal im Monat muss ich auf den Schießstand, um sicherzugehen, dass ich noch technisch fit bin. Im Einsatz jedoch stehen die Chancen, dass ich meine Waffe tatsächlich abfeuern muss, etwa eins zu tausend – verdammt, vielleicht sogar nur eins zu einer Million. Man trainiert bloß, um allzeit bereit zu sein. Im Alltag hingegen beobachtet man meistens nur. Scharfschützen sind Erkundungsspezialisten. Mit unseren Zielfernrohren und Ferngläsern sehen wir, was sonst niemand sehen kann. Wir stellen fest, wie viele Personen sich am Tatort befinden, was sie anhaben, was sie tun. Wir sind die Augen der gesamten Einheit.«
»Trainieren Sie das auch? Oder beschränken Sie sich auf Schießtraining?«
»Ständig. KIMS-Spiele und so weiter und so fort.«
»KIMS-Spiele?«
»Ja, KIMS wie in Kim, keine Ahnung, wofür das die Abkürzung ist. Ich glaube, es ist der Titel eines Romans von Rudyard Kipling. Jedenfalls geht es dabei ums Beobachten. Man zieht los, und dann gibt der Ausbilder einem sechzig Sekunden, um zehn Dinge zu entdecken und sie zu beschreiben. Man packt sein Fernglas, und dann fängt man an.« Bobby wies auf die Coladose. »Ich sehe einen Gegenstand, meiner Ansicht nach eine zerknickte Limodose, offenbar neu, rot und weiß, vermutlich Coca Cola« – er tippte die Dose an – »aller Wahrscheinlichkeit leer. Es kann auch sein, dass mir ein Gegenstand auffällt, anscheinend ein Stück Draht, schätzungsweise fünfundvierzig Zentimeter lang mit grüner Isolierung. Ein Ende wurde vermutlich abgeschnitten, und ich kann den Kupferkern erkennen, der verschmutzt wirkt. So ähnlich funktioniert das.«
Dr. Lane musterte ihn mit einem Schmunzeln. »Also werden Sie in Ihrer Ausbildung dazu angehalten, jede Einzelheit wahrzunehmen. Macht es Sie im Alltag nicht wahnsinnig, dass Sie auf Schritt und Tritt unwichtige Kleinigkeiten bemerken?«
Er verzog das Gesicht und zuckte wieder die Achseln. »Susan würde vermutlich sagen, dass ich Tomaten auf den Augen habe.«
»Und Susan ist?«
»Meine Freundin.« Er verbesserte sich. »Meine Ex-Freundin
»Sie haben sie schon am Freitag erwähnt. Ich dachte, Sie hätten gesagt, dass alles prima läuft.«
»Ich habe gelogen.«
»Sie haben gelogen?«
»Ja. Ich habe gelogen und Ihnen nichts von unserer Trennung erzählt.«
»Und aus welchem Grund könnten Sie das getan haben?«
»Weil ich Sie gerade erst kennengelernt hatte. Weil ich mich unwohl fühlte. Weil ... ach, Sie können es sich aussuchen. Ich bin ein Mann, und manchmal lügen Männer eben.«
Die Ärztin schien von dieser Bemerkung nicht amüsiert. »Und was war jetzt mit
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