Lauf, wenn es dunkel wird
Hand so weit, bis es sich anfühlte, als ob ihr Handgelenk gleich brechen würde, und ließ die Glasscherbe gerade noch rechtzeitig in ihrer Manteltasche verschwinden. Als sie hörte, wie der Türknauf umgedreht wurde, saß sie wieder auf dem Bett. Kalter Schweiß rann ihren Rücken hinunter. Vor ihrem inneren Auge malte sie sich aus, wie noch ein paar Glasscherben mitten auf dem Boden lagen. Im Licht glitzerten, sie verrieten. Sie holte tief und zitternd Luft und sagte sich, dass sie jetzt nichts mehr tun konnte.
Die Tür ging auf. Die ersten Worte waren eine Überraschung.
»Warum hast du mir nicht gesagt, wer du bist?«, wollte Griffin wissen.
Cheyenne war verwirrt. Jetzt, wo sie sich nicht länger so verbissen darauf konzentrierte, wie sie ihre Fesseln lösen konnte, brachen Erschöpfung und Übelkeit wie eine Welle über ihr zusammen. »Ich habe es dir gesagt. Ich bin Cheyenne Wilder.«
»Aber du bist die Tochter vom Nike-Präsidenten«, sagte Roy.
»Woher wissen Sie das?« Die meiste Zeit versuchte sie, diese Tatsache herunterzuspielen. Sogar in der Privatschule, auf die sie ging, wo all die anderen Eltern Rechtsanwälte oder Ärzte waren, verhielten sich alle so, als wäre das, was ihr Vater machte, was ganz Besonderes. Dabei bedeutete es einfach nur, dass er viel unterwegs war und die ganze Familie von Kopf bis Fuß in Nike-Sachen herumlief, und in Sachen von Harley, Converse und Cole Haan. Und manchmal traf sie berühmte Sportler.
»Da ist was über dich im Radio gelaufen«, sagte Griffin. »Dein Dad hat gesagt, dass du so krank bist, dass du sterben könntest. Ich hab gedacht, du hast bloß eine Erkältung oder so was.«
Ihr Dad! Cheyennes Brust tat schrecklich weh. Sie wusste nicht, ob es von der Lungenentzündung kam oder weil sie weinen musste. Sie wünschte, sie könnte die Stimme ihres Dads hören. Wenigstens eine schöne Sache hören an diesem schrecklichen Tag.
Roy kam näher. Er roch ekelhaft. Sie schnupperte noch einmal. Pfefferminze, die den Tabakgeruch übertünchte. Ein Footballer in der Schule kaute immer welchen, aber der scharfe Pfefferminzgeruch verdeckte nicht den erdigen, Brechreiz verursachenden Tabakgeruch. »Wie krank bist du denn?«
Cheyenne war hin- und hergerissen. Am liebsten wollte sie so tun, als wäre alles in Ordnung. Bloß keine Schwäche zeigen. Aber dann fiel ihr ein, was sie vorhin gedacht hatte, als sie mit Griffin alleine gewesen war. Es war wahrscheinlich besser, wenn sie wussten, dass sie krank war. Vielleicht würden sie sie dann nicht so streng bewachen und häufiger alleine lassen. Sie würden glauben, dass sie zu schwach wäre, um ihnen irgendwie gefährlich zu werden.
»Ich habe eine Lungenentzündung. Deswegen waren wir bei der Apotheke - um das Antibiotikarezept einzulösen.«
»Und deine Mom hat dich im Auto gelassen«, sagte Griffin.
Cheyenne schüttelte ihren Kopf. Plötzlich schien die Unterscheidung wichtig zu sein. »Danielle ist meine Stiefmutter. Meine richtige Mutter ist tot. Danielle hat die Schlüssel stecken lassen, falls mir kalt wird.« Sie dachte kurz daran, wie sie Danielle angefleht hatte, die Schlüssel dazulassen, und schob den Gedanken dann beiseite.
»Tja, jetzt brauchen wir ihre Nummer und die von allen anderen auch«, verlangte Roy. »Die Handynummer von deinem Dad und deiner Stiefmutter, die Festnetznummer und die vom Arbeitsplatz. Und wir wollen wissen, wie viel dein Daddy deiner Meinung nach rausrückt.« Er machte eine Pause, damit es ankam. »Und hier noch ein Tipp: Es sollte besser eine Menge sein.«
Cheyenne hatte geglaubt, dass Griffin nur ein Auto stehlen wollte. Aber nun sah es ganz so aus, als wollte er auch ein Mädchen stehlen.
Umgangsformen bei Entführungen
Cheyenne sah ängstlich aus. »Die meisten Nummern sind in meinem Handy gespeichert.« Ihre Stimme war rau. »Es ist sprachgesteuert. Ich sag einfach, wen ich anrufen will, und dann wählt es für mich.«
»Also ist es im Auto?« Roy drehte sich zur Tür.
»Ich hab es aus dem Fenster geworfen.« Hoffentlich würde Roy nicht wütend werden, dachte Griffin. Es war gar nicht so leicht, immer richtig einzuschätzen, was seinen Vater zum Explodieren brachte. »Es hat geklingelt und ich hatte Angst, dass sie es aufspüren könnten. Also habe ich es in ein Gebüsch auf ein Baugelände in der Nähe vom Einkaufszentrum geworfen.«
»Da ist was dran«, sagte Roy und nickte. Dann wandte er sich an Cheyenne. »Sag mir einfach alle Nummern, die du noch
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