Lauf, wenn es dunkel wird
auf dem Rücken gefesselt. Cheyenne beschloss also, sich zuerst den Schnürsenkel um ihre Handgelenke vorzunehmen.
Sie biss die Zähne zusammen und drehte ihre Hand, bis der Rand des Glases auf dem Schnürsenkel ruhte. Diese Stellung war schwer zu halten - fast unmöglich. Die Dehnung zog bis zu ihren Schulterblättern hoch. Dann wurde ihr klar, dass sie die Hand sogar noch weiter drehen musste, sonst würde sie sich womöglich neben dem Schnürsenkel auch noch das linke Handgelenk aufschneiden. Sie drehte sie herum und fing an zu sägen.
In ihrer Vorstellung war der Schnürsenkel weiß. Sie hatte nie jemanden nach der Farbe gefragt, aber Weiß war die einzige Farbe, die passte. Sie wusste, dass ihre Schuhe hellblau waren, und dass es Schnürsenkel - zumindest vor ihrem Unfall - meistens in Weiß, Braun oder Schwarz gab. Also war er wahrscheinlich weiß, und so stellte sie ihn sich auch vor.
Cheyenne »sah« noch immer Dinge, sogar welche, die sie vor ihrem Unfall noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Und zwar besser als nur dieser kleine verschwommene Ausschnitt ihres Gesichtsfeldes, der ihr geblieben war. Sie wusste nicht, wie es denen ging, die von Gehurt an blind waren. Aber ihr half es, wenn sie so tat, als könnte sie noch immer sehen, so als hätte sie einfach ihre Augen geschlossen und sobald sie sie öffnete, könnte sie die Welt jedes Mal wieder neu betrachten. Und es half ihr, sich gedankliche Pläne von Räumen und Gebäuden und sogar von ganzen Vierteln zu machen. Durch die Pläne konnte sie sich leichter frei bewegen, egal ob es ihr Zimmer zu Hause war (wo sie tatsächlich die meisten Dinge gesehen hatte, bevor sie ihr Augenlicht verlor) oder ihre Schule, oder wenn sie durch die Innenstadt von Portland ging (beides Orte, für die die Pläne zum Teil aus ihrer Vorstellung und zum Teil aus ihrer Erinnerung zusammengesetzt werden mussten).
In ihrer Vorstellung war der Schnürsenkel nun also weiß, der Bettpfosten, an dem sie festgebunden war, braun gestrichen und die weiche Steppdecke abwechselnd aus weißen und hellgelben Vierecken zusammengesetzt. Und selbst wenn sie den Kopf jetzt drehen und sich anstrengen würde, wäre das bisschen, das sie sehen konnte, wahrscheinlich nicht ausreichend, um irgendetwas davon zu bestätigen.
Die Ärzte hatten ihr gesagt, dass es eine gute Übung wäre, wenn sie so lange wie möglich an ihrem visuellen Gedächtnis festhielt und ihre Fähigkeiten trainierte. Weil sie als Sehende zur Welt gekommen war, fühlte sich Cheyenne noch immer so mit der Welt verbunden, wie es sehende Menschen waren. Wenn sie träumte, sah sie Farben und Gesichter, Möbel und Blumen - und erschrak jedes Mal, wenn sie aufwachte und ihr klar wurde, dass sie nichts von alldem sehen konnte. Tief in ihrem Innern hegte sie die Hoffnung, dass sie eines Tages wieder sehen könnte. Alle paar Monate las ihr Vater ihr Geschichten aus der Zeitung über Experimente mit implantierten Computerchips vor. Danielle mochte das nicht. Er würde falsche Hoffnungen wecken, meinte sie. Aber Cheyenne hatte schon vor langer Zeit beschlossen, dass sie lieber falsche Hoffnungen haben wollte als gar keine.
Klar hatte sie gelernt, wie man sich mit einem Langstock fortbewegte. Sie hatte gelernt, mit einem Computer umzugehen, der mit ihr sprach. Sie hatte gelernt, wie sie ihre Kleider ordnete, damit sie nicht auf links gedreht waren oder überhaupt nicht zusammenpassten. Sie konnte kochen, essen, sich schminken, ihre Nägel lackieren und sich kämmen. Aber es machte jene Momente nicht wett, wenn sie über jemanden sprach, von dem sie annahm, er wäre nicht mehr im Raum - und er es dann doch war. Oder die Kassierer, die zwar sahen, wie Cheyenne die Kleider auf die Theke legte und ihre Geldbörse öffnete, sich dann aber an ihre Freundinnen Kenzie oder Sadie wandten. »Bezahlt sie mit Scheck oder mit Kreditkarte?« Als könnte sie nicht sprechen.
Es war kalt im Zimmer, aber Cheyennes Hände schwitzten, was es schwierig machte, das Stück Glas gut festzuhalten. Die Sehnen ihrer Handgelenke schmerzten. Aber Cheyenne verdrängte alles bis auf den Gedanken, dass ihre Hände bald frei sein würden.
Ein Geräusch ließ sie erstarren. Es hörte sich an, als wenn am anderen Ende des Hauses eine Tür aufging. Cheyenne erkannte Griffins Stimme und die von seinem Vater. Ihr blieben noch ein paar Sekunden, vielleicht weniger. Sie versuchte mit der Seite ihres freien Fußes die Glasscherben unter die Kommode zu fegen. Sie streckte ihre
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