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Lauf, wenn es dunkel wird

Lauf, wenn es dunkel wird

Titel: Lauf, wenn es dunkel wird Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: April Henry
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ist oder Farbe an den Scheinen klebt. Und dann lassen wir dich frei.«
    Cheyenne nickte. Sie sah so aus, als würde sie Roy nicht glauben.
    Griffin war sich nicht sicher, ob er es tat.
    Er hatte zum ersten Mal einen beunruhigenden Gedanken. Roy würde Cheyenne doch irgendwann gehen lassen - oder?

 
Bei Dunkelheit arbeiten
    Cheyenne tauchte aus einem Traum auf, in dem sie sich verlaufen hatte und gegen Sachen gestoßen war.
    »Hast du Hunger?«, fragte Griffin von der Tür her.
    Sie brauchte kurz, um sich zu orientieren. Sie war in einem Zimmer in einem alten Haus irgendwo am Ende der Welt. Nur vier Leute wussten, wo sie war. Und das waren auch diejenigen, die sie gefangen hielten.
    »Hast du Hunger?«, fragte Griffin wieder.
    Sie war nicht hungrig. Sie war gar nichts. Sie war leer. Nachdem ihr Fluchtversuch gescheitert war, hatte sie ihre Hoffnungen darauf gesetzt, dass Griffins Vater einen Deal vorschlagen würde. Sie hatte sich eingeredet, dass sie vielleicht noch heute Nacht zu Hause sein würde. Sie hatte versucht, sich die Einzelheiten nicht zu genau auszumalen. Das einzige Zugeständnis an die Wirklichkeit war, dass es wahrscheinlich nicht vor Mitternacht passieren würde.
    Obwohl Cheyenne immer noch nicht geantwortet hatte, redete Griffin so weiter, als ob sie es doch getan hätte. »Ich muss ein bisschen was zu essen in meinen Dad kriegen, damit es den ganzen Alkohol aufsaugt, den er getrunken hat. Wir haben Tiefkühlpizza, die ich aufbacken kann. Wie
    wär’s? Und dazu Orangensaft?« Griffin musste fast schreien, um sich über die Musik, die aus dem Wohnzimmer dröhnte, verständlich zu machen. Es war irgendeine Art Heavy Metal. Kopfschmerzmusik.
    Cheyenne nickte. Sie zog die Steppdecke über sich und schloss die Augen. Natürlich musste sie das nicht machen, damit es dunkel wurde, aber es zeigte ziemlich gut, dass sie nicht mehr reden wollte.
    Sie döste vor sich hin, bis sich Griffin auf die Bettkante setzte und ihr die Steppdecke wegzog. »Ich hab mir überlegt, dass ich hier drin mit dir esse.«
    Als sie sich aufsetzte, konnte Cheyenne sich riechen, ein widerlicher Geruch aus Angst und Fieber. Komisch, wie schnell Dinge normal werden konnten, dachte sie, als sie den Teller aus Griffins Händen nahm. Sie mochte es nicht, wenn ihr kalt oder wenn sie schmutzig war, sie mochte es nicht, wenn ihr Leute sagten, was sie zu tun hatte. Aber hier saß sie nun, und es fühlte sich fast so an, als wäre es normal. Das galt auch für die Schnur um ihren Knöchel. Sie bemerkte sie fast gar nicht mehr. Wenigstens hatte jemand die Musik leiser gestellt.
    »Links neben deinem Ellbogen steht ein Glas - ungefähr fünfzehn Zentimeter weit weg«, sagte Griffin. »Ähm, auf zehn Uhr.«
    Sie nahm eins der beiden Stücke auf ihrem Teller und biss ab. Es war Pepperonipizza, die vor allem nach Salz und Fett schmeckte und eine dicke weiche Kruste hatte. Danielle legte ziemlich viel Wert auf gesunde Ernährung. Über die Pizza wäre sie garantiert entsetzt gewesen.
    Cheyenne biss noch mal ab. Vielleicht war sie morgen schon zu Hause. Vielleicht würde sie in vierundzwanzig Stunden gerade aus der Dusche steigen und sich in frische Laken legen.
    Griffin redete mit vollem Mund. »Wie ist das, wenn man blind ist?«
    »Denkst du jede Sekunde daran, wie es ist, dass du Haare auf dem Kopf hast?« Cheyenne schnaubte durch die Nase. »Ich bin es jetzt nun mal. Ich versuche, nicht die ganze Zeit daran zu denken.« Was stimmte. Aber es funktionierte nicht. Sie vergaß nie wirklich, dass sie blind war. Und selbst wenn sie es doch mal für eine Minute tat, konnte sie sich darauf verlassen, dass irgendetwas sie daran erinnerte. In der Regel schmerzhaft. Sie seufzte. »Zuerst fühlt es sich so an, als hätte dir jemand eine Decke über den Kopf geworfen. An manchen Tagen wollte ich einfach nur schreien: Ich bin hier drinnen! Sieht das da draußen denn niemand? Erinnert sich denn niemand mehr an mich? Ich bin immer noch derselbe Mensch.« Cheyenne verstummte. Sie wusste, dass der letzte Satz nicht stimmte, auch wenn sie es gerne hätte. Sie war nicht mehr derselbe Mensch. »Als Blinde hat sich mein Leben völlig verändert. Ich hatte nicht darum gebeten.« Sie leckte das Fett von ihren Fingern. »Deshalb unterhalte ich mich lieber am Telefon oder am Computer mit jemand anderem. Weil wir dann gleich sind. Wir sind ebenbürtig.«
    »Was soll das heißen, ebenbürtig?«
    Cheyenne versuchte in Worte zu fassen, was sie noch nie ausgesprochen hatte.

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