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Lauf, wenn es dunkel wird

Lauf, wenn es dunkel wird

Titel: Lauf, wenn es dunkel wird Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: April Henry
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»Überleg doch mal, wie viel Reden damit zu tun hat, was man sieht oder hört. Wenn man neue Leute trifft, weiß man gleich total viel über sie, noch bevor sie ein einziges Wort gesagt haben. Einfach durch ihre Kleider, wie sie stehen, durch ihren Gesichtsausdruck. Aber davon sehe ich nichts mehr. Außerdem rede ich manchmal mit Leuten, die schon längst weggegangen sind, oder ich antworte Leuten, die überhaupt nicht mit mir gesprochen haben. Aber wenn ich mich mit jemandem über den Computer oder am Telefon unterhalte, sind wir auf gleicher Höhe. Wir haben exakt den gleichen Wissensstand.«
    Während sie redete, schob Cheyenne ihre Hand in die Manteltasche und betastete das Glasstück, das dort zwischen dem Trockenfutter lag. Es beruhigte sie ein wenig. Die Scherbe war ihre Geheimwaffe. Sie strich mit dem Finger vorsichtig an einer Kante entlang, ohne ihre Unterhaltung zu unterbrechen. Griffin hatte keine Ahnung, was sie gerade tat. Sehende mussten immer alles vor Augen haben, sogar Sachen, von denen ihre Finger ihnen schon längst etwas erzählten. Wenn sie etwas in ihren Hosentaschen suchten, schauten sie immer runter, und wenn sie durch ihre Handtaschen wühlten, ging das nicht, ohne dass sie fast mit ihrem Kopf darin verschwanden. Sie kannte das, weil sie früher eine von ihnen gewesen war.
    Aber Blinde wussten, wie man Sachen machen konnte, ohne sich zu verraten. Ihre Hände konnten bei Dunkelheit arbeiten, so wie Maulwürfe, die blind eifrig vor sich hin gruben und immer dort ankamen, wo sie hinmussten. Blinde konnten so aussehen, als würden sie aufmerksam zuhören, obwohl sie in Wirklichkeit etwas ganz anderes aufmerksam verfolgten.
    »Was ist denn überhaupt passiert? Dein Dad hat gesagt, du hast einen Unfall gehabt.«
    Stille breitete sich aus, bis Cheyenne ihm schließlich doch antwortete. »Es ist in dem Sommer passiert, als ich dreizehn war. Meine Mutter ist in Medford aufgewachsen und wir waren dort unten und haben meine Großmutter besucht. Nur wir zwei. Mein Vater war auf Geschäftsreise. Er ist wegen Nike oft unterwegs.« Sie holte tief Luft. »Wir waren lange spazieren und die Sonne ging gerade unter. Wir, das waren meine Mutter, mein Hund Spencer und ich. Wir sind diese lange, gerade Straße entgegen der Fahrtrichtung entlanggelaufen. Es gab keine Gehwege, an der Seite lag einfach Schotter. Jedes Auto, das von hinten kam, hat unsere Schatten weit vorausgeworfen. Sie waren meterlang und ganz dünn.« Als sie erzählte, sah sie es beinahe vor sich. »Wenn dann die Autos näher kamen, sind auch unsere Schatten näher und näher gerückt und sie wurden kürzer und kürzer. Ich hab zu meiner Mutter gesagt, dass es so aussieht, als würden unsere Schatten rückwärtslaufen. Und das war das Letzte, was ich für immer zu ihr gesagt habe.«
    Sie erinnerte sich daran, wie ihre Mom in dem Zwielicht gelächelt hatte, ihre Locken waren zerzaust. Wie so oft am Ende eines Tages. Ihre Mom war schön gewesen, zumindest hatte Cheyenne sie so in Erinnerung. Dabei hatte sie nicht halb so viel Zeit beim Friseur oder im Fitnessstudio verbracht wie Danielle. Aber sie hatte viel Zeit für Cheyenne gehabt. Sie hatten über dieselben Witze gelacht, Witze, die ihr Dad nie so lustig fand wie sie. Jeden Samstag hatte ihre Mom sie zur Bücherei mitgenommen und sie waren beide mit einem dicken Bücherstapel nach Hause gekommen.
    Wenn jemand Cheyenne fragte, was passiert war, sagte sie immer nur »Autounfall«, und das in einem Tonfall, der jedem klarmachte, dass sie kein weiteres Wort darüber verlieren wollte. Sie sprach nie darüber. Nie.
    Jetzt holte sie zitternd Luft. »Gerade noch gehen wir spazieren und beobachten unsere kürzer werdenden Schatten und dann kommen auf einmal zwei Autos hinter uns angefahren. Es waren zwei jugendliche Raser, und einer ist auf der falschen Spur gefahren, der Spur neben uns. Dann muss der Typ wohl die Scheinwerfer von einem entgegenkommenden Auto gesehen und Panik bekommen haben. Er ist ausgeschert und hat uns erwischt.« Sie erzählte nicht, dass der Körper ihrer Mutter meterweit von der Stelle gefunden wurde, an der sie den Unfall gehabt hatten.
    »Das Auto ist genau über Spencer gefahren. Mein Hund. Es hat mich nicht voll erwischt, sonst wäre ich auch tot. Stattdessen hat es mich gegen ein Geschwindigkeitsbegrenzungsschild geschleudert. Ich bin mit dem Kopf gegen den Pfosten geknallt.« Cheyenne merkte, dass sie unbewusst mit den Fingern durch ihren Pony fuhr, den sie immer

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