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Lauf, wenn es dunkel wird

Lauf, wenn es dunkel wird

Titel: Lauf, wenn es dunkel wird Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: April Henry
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Wie man läuft, ohne an Sachen zu stoßen.
    Eines der ersten Dinge, die sie gelernt hatte, war der Umgang mit dem Langstock. Er war überraschend leicht, hatte einen Kautschukgriff wie manche Golfschläger und eine Plastikspitze. Man konnte den Stock zu einem sauberen, kleinen Stangenbündel zusammenfalten. Cheyenne hatte sich vorgenommen, ihn so oft wie möglich zusammengefaltet zu lassen, und hielt ihn nach Möglichkeit verborgen. Als die Lehrer ihr gesagt hatten, dass er im Dunkeln leuchtete, hatte sie sich ausgemalt, wie er sie verriet. Gerade nachts, der einzigen Zeit, in der sie gegenüber Sehenden vielleicht einen winzigen Vorteil hatte.
    Aber wo sie in der Schule schon mal mit anderen Blinden zusammen war, wollte sie auch lernen, wie man ihn benutzte. Danielle hatte ihr einen Bibelvers vorgelesen. »Denn als Glaubende gehen wir unseren Weg, nicht als Schauende.« Wenn man einen Stock benutzte, war es genauso. Jeder Schritt war ein Schritt ins Leere, bis man wieder festen Boden unter den Füßen spürte.
    Der Stock machte tack-tack. »Fühlen, nicht klopfen«, sagten die Lehrer. Sie brachten ihr bei, dass man ihn so wie einen Metalldetektor hin- und herstrich und den Punkt berührte, an dem der Fuß als Nächstes abgesetzt werden sollte. Wenn sie links nach vorne ging, tippte sie rechts auf den Boden. Falls ein Loch oder irgendetwas anderes im Weg wäre, würde es der Gehstock zuerst finden. Wenn sie Treppen runterging, hielt sie den Stock genau vor sich und vertraute inzwischen darauf, dass er aufstoßen würde, wenn sie unten angekommen war. Durch die Rückmeldung ihres Stocks konnte sie Gitter spüren, und wo es hochging, wo runter, Teppichböden, Fliesen, Holz, Kies, Bordsteine, Gras und diese üblen Schwingtüren.
    Und sie hatte gelernt, dass ihr nicht nur der Stock sagte, was direkt vor ihr lag. Wenn sie genau hinhörte, konnte sie unterscheiden, ob das Geräusch von einer Backsteinmauer zurückgeworfen wurde oder von einem Vordach oder es an einem geöffneten Eingang widerhallte. Sie konnte manchmal sogar ohne Stock sagen, ob etwas vor ihr lag, ein Baum oder ein Telegrafenmast zum Beispiel. Als Blinde musste Cheyenne jedes Schnipselchen an Information deuten, das sie von ihren anderen Sinnen bekam. Viele dachten, dass Blinde besondere Fähigkeiten hatten, aber in Wirklichkeit lernten sie einfach besser aufzupassen. Sie mussten aufpassen.
    Jetzt wo sie auf Griffins Bett lag, erinnerte sie sich an das erste Mal, als ihr Lehrer sie alleine nach draußen geschickt hatte. Sie hatte sich auf eine Straße in der Stadt gewagt, den Schritten der anderen nachgelauscht und Angst gehabt, dass sie jemanden mit ihrem Stock erwischen würde. (Das war, bevor ihr klar geworden war, wie gut man mit einem Stock eine Menschenmenge kontrollieren konnte - wenn die Leute ihn erst einmal sahen, hielten sie meistens Abstand.) Sie fragte sich, ob die Leute sie anstarrten. Einmal dachte sie, sie hätte jemanden flüstern gehört, aber wahrscheinlich hatte sie sich das nur eingebildet. Ein paar Querstraßen weiter war ihr Atmen schließlich ruhiger geworden.
    »Bist du blind?«, hatte jemand gefragt und sie erschreckt. Die Stimme gehörte einem kleinen Jungen.
    Cheyenne drehte sich herum, war sich aber nicht sicher, ob sie in die richtige Richtung schaute. Sie holte tief Luft. »Ja«, gab sie zu.
    »Dann bist du bestimmt ganz schön krank!« Anschließend hörte sie, wie er wegrannte.
    Am Ende eines jeden Tages - Cheyenne war für drei Monate in dem Internat und kam nur an den Wochenenden nach Hause - fiel sie erschöpft ins Bett und schlief so tief, dass sie nicht mal träumte. Einerseits war sie froh darüber. Andererseits wünschte sie sich verzweifelt, dass sie wieder Zeit mit ihrer Mutter verbringen konnte, selbst wenn es nur in ihren Träumen war. In den wenigen Träumen, die sie von ihrer Mutter hatte, suchte sie jedes Mal in einer riesigen Menschenmenge nach ihr. Aber sie bekam sie immer nur kurz zu sehen, bevor ihre Mutter ein Zimmer verließ.
    Als vor Griffins Tür plötzlich rumgebrüllt wurde, schlief Cheyenne so fest, dass sie nichts davon mitbekam.

 
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    Griffin ging schnell ins Wohnzimmer zurück. »Was ist passiert?« Er hatte seinen Vater schon sehr, sehr lange nicht mehr so wütend erlebt. Das war zu Zeiten, als seine Mutter noch da gewesen war und sie hatte dann immer versucht, Roy aufzuheitern. Nicht, dass sie damit viel Erfolg gehabt hätte.
    Wenigstens waren TJ und

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