Laufend loslassen
von Finisterre nach Muxía nimmt, verliere ich meine Mitte, werde unruhig. Vielleicht ist das der Grund, warum ich mich gerade in diesem Teil zum zweiten Mal verlaufe und wieder eine Stunde Umweg gehe, bis ich schließlich in Lires auf den Camino zurückfinde.
Als ich schließlich in den Randbereichen von Finisterre ankomme, bin ich erschöpft, habe fast kein Wasser mehr und die Hoffnung längst aufgegeben, in der Albergue noch unterzukommen. Doch wider Erwarten ist noch Platz.
Auch andere haben sich verlaufen und kommen nach mir. Die kühle Dusche weckt die Lebensgeister rasch wieder. Ich trinke wie ein Kamel und die Unternehmungslust erwacht, obwohl ich sicher 36 Kilometer hinter mir habe. Zunächst wird der Ort erkundet, dann der Strand, immer dabei auch der Blick, ob ich Verena sehe. Irgendwann finde ich mich damit ab, dass sie nicht da ist. Wenn es sein soll, werden wir uns begegnen, wenn nicht, ist es vielleicht besser so.
Etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang mache ich mich auf den Weg zum Leuchtturm am Cabo Finisterre. Die Socken für die rituelle Verbrennung habe ich eingepackt, auch das Hemd von Dennis, das er mir zu diesem Zweck mitgegeben hat. Denn er musste früher nach Hause fliegen und hatte deswegen für den Weg nach Finisterre keine Zeit mehr.
Zu meinem Gepäck gehört auch Wein und ein Stück Empanada zum Feiern. Ein langer Zug von Pilgern ist auf dieser letzten Strecke von drei Kilometern unterwegs. Einige kommen schon zurück, haben ihre Sachen verbrannt. Schon im Mittelalter gab es den Brauch, am westlichsten Punkt der bekannten Welt im Meer zu baden, seine Kleider zu verbrennen und den Sonnenuntergang zu betrachten, um dann am nächsten Morgen als neuer Mensch zu erwachen.
Am Leuchtturm lasse ich mich am Kilometerstein null fotografieren, fest lege ich meine Hände auf ihn. Auf den Felsen neben dem Leuchtturm sitzen Pilger einzeln oder in kleinen Grüppchen, schauen hinaus aufs Meer zur untergehenden Sonne. Ich setze mich dazu. Das also ist das Ende des Wegs, 2000 Kilometer von meinem Ausgangspunkt entfernt. Ich spüre deutlich, dass mich der Jakobsweg so verwandelt hat, dass ich meinen neu gewonnenen Lebensmut, mein Gottvertrauen und die tiefe innere Freude, die mich erfüllt, mit in meinen Alltag nehmen werde. Es ist eine tiefe Dankbarkeit für diese grundlegende Wandlung in mir.
Die Sonne sinkt langsam. Bevor sie im Ozean verschwindet, versteckt sie sich hinter Wolken, die sehr, sehr weit entfernt sein müssen.
Langsam bricht die Nacht herein, einige Deutsche entzünden mit Holz ein Feuer in einer Felsspalte, das ich nutzen darf. In der Nähe ein Grüpp-chen von vier Pilgern. Die Brasilianerin ist dabei, die ich vor drei Tagen kennengelernt habe, die Frau aus Barcelona, die mit mir ihre Nudeln geteilt hat. Wir setzen uns zusammen, trinken Wein und unterhalten uns über die Bedeutung des Camino für uns, soweit das geht.
Es ist schon fast Vollmond, ein Tag fehlt nur. Es ist eine sanfte, sehr warme Nacht. Während ich die Atmosphäre dieses Endpunktes einatme, wird mir klar, dass ich morgen nicht in Finisterre bleiben werde, sondern nach Santiago zurückkehre. Es ist schon spät, als wir loslaufen. Ich gehe mit der Spanierin und der Brasilianerin talwärts der Stadt entgegen. Ein junger Deutscher stößt zu uns, der sich auf der Matratze vor mir in der Herberge eingerichtet hatte und mit dem ich mich am Nachmittag beim Wäschewaschen schon kurz unterhalten habe. Da er danach fragt, erzähle ich ihm von meinem Aufbruch in Taizé. Er kennt den Ort, war mit den Eltern schon in Ameugny beim Familienprogramm von Taizé.
Mit einem Mal kommt ein Gewitter auf, von einer Minute zur anderen, es fängt an zu regnen und - plötzlich stürze ich. Irgendwie habe ich beim Laufen und Unterhalten den Graben nicht gesehen, der neben der Fahrbahn in Gestalt einer halben Betonröhre verläuft. Ich schlage längs hin, spüre einen scharfen Schmerz an der Nase. Es ist tiefe Nacht, die anderen helfen mir auf. Die Nase blutet stark, wie ich später sehen werde, ist eine Wunde am rechten Nasenflügel. Der linke Ellbogen und das rechte Knie sind aufgeschürft, die Brille aber bis auf zwei winzige Kratzer heil. Nur die vordere Zahnreihe fühlt sich fremd an. Die Lippe schwillt. Später, vor dem Spiegel in der Herberge, sehe ich, dass ein großes Stück des rechten vorderen Schneidezahns abgebrochen ist. So werde ich eine bleibende Erinnerung an diese ersten Kilometer auf dem Camino nach dem Camino mit
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