Laufend loslassen
Ein herrlicher, sonniger Tag, nur ganz dünne Schleierwolken.
Noch einmal ordentlich geduscht. Bernhard treffe ich wieder, gehe mit ihm ins Morgengebet.
Bibeleinführung mit Frère Wolfgang:
Erst spricht er von wirklicher Präsenz.
In mir bleibt die Frage hängen: Wann sind wir wirklich präsent oder sind wir nicht ständig anderswo, nicht bei uns und der gegenwärtigen Situation? Auch die Gebete hier und das Singen seien Wege, um zu einer wirklichen Präsenz zu kommen. Unsere Präsenz werde real, wenn wir auch aus uns herausgehen können, auf andere zu.
Dann spricht er über die Aussendung.
Ausgerechnet heute, wo ich den Jakobsweg beginne, wird über die Aussendung gesprochen. Ein merkwürdiger Zufall: Jesus sendet seine Jünger aus, zu zweit. Zwei sind besser als einer, heißt es beim Prediger Salomo, denn wenn einer hinfällt, hilft ihm der andere auf. Und beim Schlafen wärmt einer den anderen. Jesus spricht auch über die Ausrüstung. Keinen Beutel für viel Geld, keinen Vorrat. „Seid Leute, die auf die Güte anderer angewiesen sind, nicht autark.“ Ich werde meinen Weg alleine gehen, mit Geld, mit Bankcard und fast 15 Kilo auf dem Rücken, fast einem Kilo in der Bauchtasche und eineinhalb Kilo in der Wasserflasche.
Ich starte kurz vor 12 Uhr mit guten Wünschen von Dorothee und Heinrich. Ich bin noch nicht ganz den Taizé-Hügel hinabgestiegen, da kommt mir ein junger Mann entgegen.
„Jakobspilger?.“, fragt er. Ich nicke.
„Kann ich Ihnen helfen, kennen Sie den Weg?.“
„Nach Flagy ja.“
„In Flagy aufpassen.“, sagt er, „es geht links ziemlich den Berg hinauf.“ Der junge Mann ist vor zwei Jahren von Taizé aus nach Santiago gegangen, auch nach einem Aufenthaltstag, und hat den Weg geschafft.
„Bis Le Puy bist du allein, ab da triffst du immer mehr Pilger und ab St. Jean Pied de Port ist Pilgerautobahn.“, kündigt er mir an. „Ultreia!.“, grüßt er zum Abschied. Der alte Pilgergruß, der so etwas wie vorwärts, immer weiter, bedeutet. Welch eine Ermutigung!
Hinter Flagy wechselt der Weg oft sein Gesicht, manchmal schmal und steinig und zwischen Buchsbaumhecken, die so dicht stehen, dass der Rucksack beiderseits streift. Dann wieder ein Feldweg, mal steinig, mal grasbewachsen, dann geteert als Ortsverbindungsweg. In Colonge nach einer weiteren Stunde Verwirrung über den weiteren Weg. GR 76 und Jakobswegbeschilderung gehen auseinander. Nach meinem Buch müsste es nur ein Weg sein. Ich mache Rast, eine gute halbe Stunde lang. Ich fühle mich erfrischt. Den Füßen hat die Zeit ohne Wanderschuhe gutgetan. Nach der Rast folge ich nicht meiner Intuition, sondern der Faulheit (ich will nicht zurücklaufen), die ich durch die Logik untermauere (mir schien einer der ausgeschilderten Wege in die richtige Himmelsrichtung zu führen). Und prompt habe ich mich verlaufen. Ich komme in einem kleinen Weiler an - wenige Häuser nur - , wo mich eine steinerne Gedenktafel berührt. Sie erzählt, dass hier am 15. Juni 1944 zwei Kämpfer der Résistance von Deutschen erschossen wurden. Ein Mann taucht auf. Ich frage ihn nach dem Weg. Fünf Meter von der Tafel entfernt gibt ein Franzose mittleren Alters einem deutschen Santiagopilger freundlich Auskunft.
Der Rucksack wird schwerer und schwerer, die Füße brennen und es geht steil bergauf. Schließlich der Hügel, Cluny wird sichtbar. Ich gehe die Straße entlang. Ich bin ganz schön fertig, aber mein Konzept in mir sagt, es ist heute noch nicht genug gelaufen. Ich lasse das Konzept los und bin gut zu mir. Ich steuere den Campingplatz von Cluny an, den ich um 18 Uhr nach etwa 12 Kilometern erreiche. In der Hauptstraße von Cluny werde ich als Jakobspilger von manchen gegrüßt, eine neue, unbekannte Erfahrung. Ich hole mir noch den Stempel für den Pilgerpass in der Pfarrei Notre Dame ab. Später, nachdem ich auf dem Campingplatz Pullover und T-Shirt gewaschen habe, kehre ich noch einmal in diese dunkle gotische Kirche zurück und stimme verhalten im leeren Raum ein „Misericordias domini, in aeternum cantabo.“ an, eines meiner Lieblingslieder aus Taizé. Ich habe noch nie vorher allein in einer Kirche ein Lied gesungen. Auch eine neue, unbekannte Erfahrung. Wieder draußen, fängt es wenige Minuten später zu regnen an. Vorher war es wärmer und schwüler geworden. Erst will ich im Regen zurück, denke an das Handtuch auf dem Zelt und den Pullover und das T-Shirt auf der Leine, die morgen sicher nicht trocken sein werden. Eventuell ist
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