Laufend loslassen
nach Hause nehmen.
Ich frage mich, was dieser Sturz mir sagen soll, doch ich finde erst keine Antwort. Später fallen mir die Worte wieder ein, die Frère Wolfgang an meinem Abschiedstag in Taizé aus dem Prediger Salomo zitiert hat: „Besser ist es, zwei als einer. Fällt ihrer einer, so hilft ihm der andere auf. Weh dem, der allein ist! Wenn er fällt, so ist kein anderer da, der ihm aufhelfe. Einer mag überwältigt werden, aber zwei mögen widerstehen, eine dreifältige Schnur reißt nicht leicht entzwei.“
Mir, der ich mich oft schwertue, Hilfe anzunehmen, standen hier drei Helfer zur Seite. Die Spanierin und die Brasilianerin halfen mir auf, stillten unterwegs die Blutung der Wunde. Der junge Deutsche verarztet mich in der Herberge mit Desinfektionsspray, Pflaster und homöopathischen Kügelchen gegen die Schwellung. Dann lege ich mich hin und schlafe überraschend gut.
Dienstag, 28. August
Ich wache beim Hellwerden auf, das Kreischen der Möwen im Ohr. Während ich mich fertig mache, kommt Munique, die Brasilianerin, und erkundigt sich nach meinem Befinden. Später sehe ich, dass sie den gleichen Bus nimmt und setze mich zu ihr.
Ich bin froh, nach Santiago zu kommen. In Finisterre hält mich nichts mehr, die Pilgerreise, das spüre ich deutlich, muss in der Stadt des Apostels abgeschlossen werden.
Der Bus hat eine halbe Stunde nach der Abfahrt eine Panne, sodass wir auf einen Ersatzbus warten müssen. In Santiago angekommen, nehmen Munique und ich herzlich Abschied voneinander. Sie fährt mit dem Bus nach Oporto und fliegt dann nach Rio de Janeiro weiter, ich freue mich auf den Abschiedstag in Santiago.
Als Erstes suche ich die vertraute Unterkunft auf und bekomme ein Zimmer. Gleich frage ich nach Verena. „Si.“, eine „chica alemana.“ sei da, bekomme ich als Auskunft. Ich stelle nur kurz den Rucksack ab und eile zur Kathedrale. Ich komme spät für den Pilgergottesdienst, doch noch rechtzeitig genug, um zum zweiten Mal das Schwenken des Botafumeiro zu erleben. Ich bin gerührt. Welch ein Glück, das auch bei meiner zweiten Ankunft in Santiago zu erleben. Auf dem Rückweg kaufe ich etwas zu essen ein; ich habe den ganzen Tag noch nichts gegessen. Dann suche ich Verena. Sie kommt mir gerade aus ihrem Zimmer entgegen. Sie erschrickt bei meinem Anblick. „Wie siehst du denn aus!?.“ Wir setzen uns in die Küche, ich koche meinen letzten grünen Tee mit Jasmin, wie ich ihn oft auf dem spanischen Camino den anderen angeboten habe, und erzähle ihr von den letzten vier Tagen und meinem Unfall. Auch sie erzählt, was sie seit unserem Abschied erlebt hat. Sie berichtet auch von Dennis.
„Er hat genau in dem Ort seine Stelle bekommen, wo er es sich gewünscht hat.“ Sie freut sich mit ihm und auch ich gönne es Dennis von ganzem Herzen. Als sie den Ort nennt, bin ich erstaunt.
Ich kenne mich in jenem Teil der Republik wirklich nicht sehr gut aus, aber in diesem Ort war ich schon, habe ein altes Kloster dort besucht auf einer Reise nach Skandinavien.
Den Nachmittag über streife ich durch die Stadt, erkundige mich, ob mein Flug unverändert ist. Es ist alles in Ordnung. Für den Abend gibt Verena mir den Tipp für ein tunesisches Lokal. Während ich meinen Rucksack im Zimmer umpacke, finde ich auch die Adresse von Angelo wieder, der mich in Taizé gebeten hatte, für ihn am Grab des Apostels Jakobus zu beten und ihm auch eine Karte zu schicken.
Letzteres erledige ich sofort mit meiner letzten Karte und Briefmarke. Dann schlendere ich zur Kathedrale, wo gerade eine Abendmesse beginnt. Ich bleibe und bin froh über diese Zeit der Besinnung. Ich spüre den Impuls, noch einmal zur Statue des heiligen Jakobus hinaufzusteigen und sie, wie der Pilgerritus es will, zu umarmen. Ich fühle deutlich, dass ich den Segen für meinen weiteren Weg will. Also stelle ich mich wieder an, warte geduldig, bin dann im entscheidenden Moment sehr konzentriert. Danach gehe ich zum Essen.
Das tunesische Lokal erweist sich als ein wunderbarer Ort. Der Gastwirt strahlt Liebe aus und eine sanfte Herzlichkeit, die Musik verstärkt diese Empfindung, sodass dieses Abschiedsessen fast eine spirituelle Erfahrung wird. Ich habe das körperliche Gefühl, an einem Ort mit viel positiver Energie zu sein. So schließt sich auch hier ein Kreis. Wahrscheinlich war es der erste Tunesier, den ich beim Pilgern getroffen habe, der mir das negative Erlebnis des Bestohlenwerdens beschert hat. Der zweite Tunesier, den ich treffe, strahlt
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