Laura Leander 02 - Laura und das Siegel der Sieben Monde
sich schon auf der Fahrbahn. Laura erfasste mit einem Blick, dass er blind war. Er tastete sich mit einem weißen Stock voran und trug eine gelbe Binde mit drei schwarzen Punkten.
D er M ann war in G efahr!
Er konnte den Lieferwagen nicht sehen, der direkt auf ihn zuhielt!
»Vorsicht!«, schrie Laura.
Doch der Alte reagierte nicht. Vielleicht hatte er ihren Warnruf nicht gehört, denn der Motor des Wagens hatte plötzlich aufgeheult, und das Fahrzeug schoss auf den Blinden zu. Nur noch wenige Meter, und es würde ihn erfassen.
Ohne nachzudenken, sprintete Laura los – und schaffte das Unmögliche: Nur Sekunden, bevor der Kühler des Lieferwagens ihn erwischt hätte, erreichte sie den Alten mit einem kühnen Sprung und zerrte ihn auf den Bürgersteig, was ihn vor dem sicheren Tod bewahrte.
Sie stürzten in einen der verharschten Schneehaufen, die am Straßenrand aufgetürmt waren. Laura hörte ein leises Knacken. Hastig richtete sie sich auf und musterte den Mann keuchend.
Er lag auf dem Rücken. Das Gesicht unter dem eisgrauen Haar war schmerzverzerrt. Aus einer Wunde auf seiner Stirn sickerte Blut. Laura packte ihn an den Schultern und half ihm, sich aufzusetzen. Dabei bemerkte sie eine fast kreisrunde kahle Stelle an seinem Hinterkopf.
Der Grauhaarige ächzte und hielt sich mit der linken Hand den rechten Unterarm.
»Was ist los?«, fragte Laura besorgt. »Haben Sie sich wehgetan?«
Der Greis nickte gequält. »Mein Arm. Ich glaube, er ist gebrochen.«
Mitfühlend stöhnte Laura auf. »Oh, nein!«
Der Mann lächelte, und seine leeren Augen schauten ihr geradewegs ins Gesicht. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, ächzte er. »Es ist halb so schlimm – Laura.«
L aura?
Hatte er tatsächlich Laura gesagt? Aber – er kannte sie doch gar nicht! Sie waren sich noch nie begegnet. Außerdem konnte er sie nicht sehen. Woher wusste er dann ihren Namen?
Laura konnte nicht weiter darüber nachdenken, denn der Alte winkte sie näher an sich heran. Er wollte ihr offensichtlich etwas Vertrauliches sagen. Das Mädchen beugte sich zu ihm hinunter.
»Hör zu, Laura.« Nur mühsam kamen die geflüsterten Worte über die Lippen des Blinden. Offenbar war er doch schwerer verletzt, als er zugeben wollte. »Suche nach dem Siegel der Sieben Monde. Es gibt nichts auf der Welt, was die Mächte der Dunkelheit mehr fürchten als die Kraft, die von diesem Siegel ausgeht. Es wird dir helfen, deine Aufgabe zu erfüllen und deinen Vater zu retten.«
Ungläubig starrte Laura den Blinden an. Woher wusste er von ihrer Aufgabe? Und wie hatte er erfahren, dass sie ihren Vater aus den Fängen der Dunklen befreien musste?
»Du wirst schon bald verstehen, Laura!« Ein flüchtiges Lächeln huschte über das Gesicht des Alten, bevor es wieder ernst wurde. »Suche das Siegel der Sieben Monde. Du musst es finden, wenn du gegen Borboron bestehen willst!«
Laura wollte antworten, als aufgeregte Stimmen an ihr Ohr drangen. Gleichzeitig ertönte ein Martinshorn, dessen nerviges Heulen immer näher kam. Überrascht schaute sie auf: Eine Schar Neugieriger hatte sich um sie versammelt. Die Leute redeten aufgeregt durcheinander. »Was ist denn passiert?«
»Die Sanitäter! Ruft die Sanitäter!«
»Wo ist der Lieferwagen? Hat jemand den schwarzen Lieferwagen gesehen?«
Laura schwirrte der Kopf. Was hatte das bloß zu bedeuten? D as S iegel der S ieben M onde? Was in aller Welt hatte es damit auf sich? Und vor allem: Wo konnte sie es finden? Sie beugte sich über den Verletzten und wollte ihn gerade danach fragen, als ein Rettungswagen mit quietschenden Bremsen am Straßenrand hielt. Die Türen wurden aufgerissen, zwei Sanitäter sprangen heraus und bahnten sich einen Weg durch die Menge. »Platz da! Machen Sie schon Platz, und lassen Sie uns unsere Arbeit tun!«
Auch Laura wurde zur Seite gedrängt. Ein Mann in orangefarbener Dienstkleidung kniete neben dem Verletzten nieder, musterte ihn und tastete ihn mit fachmännischen Handgriffen ab. Dann richtete der Sanitäter sich wieder auf. »Unterarmfraktur und möglicherweise innere Verletzungen. Außerdem Prellungen und Hautabschürfungen. Wir bringen ihn in die Rotkreuz-Klinik!«, sagte er zu seinem Kollegen.
Ohne dass Laura noch Gelegenheit gehabt hätte, mit dem Blinden zu sprechen, betteten sie ihn auf eine Trage und verfrachteten ihn in den Wagen. Das Blinklicht zeichnete zuckende blaue Blitze in den Abendhimmel von Hinterthur, während sich der Krankenwagen entfernte.
Rasch
Weitere Kostenlose Bücher