Laura Leander 02 - Laura und das Siegel der Sieben Monde
rührte einmal mehr ihr Herz. Da hatten Percy und sie auf ihrer Traumreise in die Zeit des Grausamen Ritters zwar verhindert, dass die junge Frau in ihrer Wolfsgestalt in die tödliche Falle ihres unwissenden Geliebten tappte – und sie dennoch nicht retten können. Nur Monate später nämlich stellte Reimar von Ravenstein sie erneut vor die Wahl, entweder seine Gemahlin zu werden oder zu sterben. Der Gedanke, durch eine Ehe mit dem Grausamen Ritter ihre wahre Liebe verraten zu müssen, war Silva so unerträglich, dass sie sich vor seinen Augen von den Zinnen des großen Turmes in den Tod stürzte… Plötzlich wusste Laura, was die Weiße Frau vorhatte. »Dieser schreckliche Tag jährt sich heute, nicht wahr?«, fragte sie voller Mitgefühl.
»Ja, Laura.« Ein wehmütiges Lächeln spielte um Silvas blutleere Lippen. »Die Menschen feierten damals das Ostarafest, und alle freuten sich auf den kommenden Frühling, als der böse Kerl mich auf den Turm schleppte und mich vor die Wahl stellte –« Die junge Frau brach ab und starrte wie abwesend vor sich hin. »Mögen seit dieser Zeit auch endlose Jahre vergangen sein, immer, wenn der Tag des Frühlingsanfangs anbricht, wird alles wieder lebendig in mir, und nichts hält mich mehr an meinem Platz. Mit unbändiger Macht drängt es mich an den Ort, an dem ich dem Grausamen Ritter die Kraft meiner Liebe beweisen musste.«
»Dann willst du also auf den Bergfried?«
»Ja – wie jedes Jahr um diese Zeit.«
»Ich besuche das Internat schon seit ein paar Jahren«, wunderte Laura sich. »Aber ich hab dich noch niemals auf dem Turm gesehen.«
Erneut lächelte die traurige Frau. »Du zählst doch erst seit kurzem zum Kreis der Wächter und konntest vorher nicht erkennen, was sich hinter der Oberfläche der Dinge verbirgt«, antwortete sie, um dann mit einem merkwürdigen Ton in der Stimme hinzuzufügen: »Und selbst heute scheint dir das noch abzugehen, wenn ich mich nicht ganz täusche.«
Irritiert blickte Laura die Weiße Frau an. Sie hatte keine Ahnung, worauf Silva anspielte. Aber vielleicht würde sie ja einen Tipp von ihr erhalten. Schließlich hatte sie ihr bei der Suche nach dem Kelch auch geholfen.
»Ähm«, sagte Laura deshalb hastig, »darf ich dich begleiten?«
»Meinetwegen. Wenn du mir Gesellschaft in meiner Trauer leisten möchtest.«
Schon kurze Zeit später standen sie auf der Spitze des Turms. Für Silva war es natürlich viel einfacher gewesen, dorthin zu gelangen. Die Tür, die auf die Aussichtsplattform führte, war nämlich abgeschlossen. Während die Weiße Frau einfach durch sie hindurchgehen konnte, wollte Laura schon zum Hausmeister eilen, um den Schlüssel zu holen. Zum Glück erinnerte sie sich gerade noch rechtzeitig daran, dass sie noch immer Attilas Zauberdietrich besaß, mit dem sie die dicke Holztür dann auch mühelos zu öffnen vermochte.
Laura stellte sich neben Silva dicht an die Zinnen und ließ den Blick über das umliegende Land schweifen, das bereits in nächtliche Dunkelheit getaucht war. Nur der fast noch volle Mond spendete Licht. Es war still. Allein der Wind säuselte eine traurige Melodie und spielte mit Lauras langem Haar – genau wie damals, als sie auf dem Rücken von Lateris aus den Mauern der mittelalterlichen Burg entkommen war. Augenblicklich war die Erinnerung wieder da, und das damalige Geschehen wurde wieder lebendig vor Lauras geistigem Auge. Das Bild von Reimar von Ravenstein und der Horde seiner ungehobelten Kumpane stieg in ihr auf. Sie sah das Geisterheer der Ritterrüstungen und die unheimliche Frau im smaragdgrünen Kleid. Und sie sah den Kaplan, der in seiner wallenden Soutane auf sein Häuschen im Park zueilte, um das Buch unter seinem Arm in Sicherheit -
Laura zuckte zusammen, als sei sie aus heiterem Himmel vom Blitz getroffen worden.
Natürlich! Der Kaplan!
War es nicht möglich, dass er…?
Laura hatte den Gedanken noch gar nicht zu Ende gedacht, als sie sich auch schon umdrehte und losrannte. Obwohl das Mädchen nicht ein Wort von sich gegeben hatte, schien Silva zu ahnen, was es im Schilde führte. Denn während sie Laura einen Blick hinterher warf, huschte ein Lächeln über das Gesicht der Weißen Frau, und obgleich sie von tiefer Trauer erfüllt sein musste, sah sie plötzlich sehr zuversichtlich aus.
Lukas hatte nicht im Geringsten übertrieben: Fräulein Amalie Bröselsam war tatsächlich bereit, alles für ihn zu tun. Obwohl die Öffnungszeit längst verstrichen war, sperrte sie die
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