Laura Leander 02 - Laura und das Siegel der Sieben Monde
»Wieso das denn?«
»Keine Ahnung.« Doch Lauras Verdacht wurde durch eine Zeichnung bestärkt, die offensichtlich ein Porträt des Henkers sein sollte. Ihre Unterzeile lautete nämlich »Der Rote Tod«, wie der Spitzname, den die Menschen Reimars gnadenlosem Vollstrecker wegen seiner feuerroten Haarpracht verpasst hatten. Im Bildhintergrund war auch die Burg zu erkennen, nebst einem Galgen und einem Richtblock, an dem ein Henkersbeil lehnte. An der Stelle des Dargestellten prangte jedoch nur ein weißer Fleck.
»Das verstehe, wer will«, murmelte Lukas, während er die Blätter der Chronik wieder zusammenschnürte. »Oder hast du vielleicht eine Erklärung dafür?«
»Nicht die geringste«, flüsterte Laura. »Aber ehrlich gesagt ist es mir auch egal. Wie immer sich das auch erklären lässt, es hilft mir keinen Schritt weiter.«
Lukas entgegnete nichts und sah die Schwester nur stumm an. Was hätte er auch sagen können? Kein noch so sorgsam gewähltes Wort hätte Laura in ihrer grenzenlosen Enttäuschung trösten können, das fühlte er ganz genau. Und deshalb machte er sich nur stumm daran, den Nachlass des Kaplans wieder zu verstauen.
»Ich geh schon auf mein Zimmer, wenn du nichts dagegen hast«, erklärte Laura. Ohne seine Antwort abzuwarten, erhob sie sich und stieß dabei an den Tisch, sodass eines der losen Blätter aufgewirbelt wurde und zu Boden fiel. »Oh, sorry!« Laura bückte sich eilends und hob es auf. Als sie es in den Karton legen wollte, erhaschte ihr flüchtiger Blick zwei Worte: »Sie… ben Mon… de«, konnte sie mühsam entziffern.
Die Erkenntnis durchfuhr sie wie ein elektrischer Schlag. »Schau mal, Lukas!«, rief sie aufgeregt und hielt dem Bruder das Blatt direkt unter die Nase.
Verwundert stupste der Junge die Brille zurück. »Was denn?«
»Lies doch!«
›»Das Ge… heim… nis der Sieben Monde‹«, entzifferte Lukas mühsam, denn er musste die altertümliche Sprache in Hochdeutsch übertragen, »wie… es geschrie… ben steht… in der Bru… der… schaft der Sieben‹. Hey! Sieht so aus, als hätte der Kaplan die Geschichte aus dem alten Buch übersetzt!«
Die Legende war nicht sehr lang. Sie umfasste nur drei Seiten. Dennoch brauchten Laura und Lukas eine ganze Weile, um sie zu lesen, denn die altertümliche Handschrift des Kaplans ließ sich nur mit allergrößter Mühe entziffern:
»Es war einmal in einer fernen Zeit, da lebten auf einem Stern jenseits des menschlichen Wissens, der von den Eingeweihten Aventerra genannt wird, sieben Geschwister – vier Mädchen und drei Jungen. Sie waren unzertrennlich, und nichts vermochte sie auseinander zu bringen, denn ihre gegenseitige Liebe war grenzenlos. Sie sorgten füreinander, stets war der eine für den anderen da, und jeder von ihnen hätte das eigene Leben für die Schwester oder den Bruder gegeben, wäre es denn nötig gewesen. So verbrachten die sieben ihre Tage in vollkommener Eintracht und Harmonie. Jede Stunde waren sie zusammen, weil sie einander nicht missen mochten. Führten die Geschäfte des Alltags den einen auch nur für eine kleine Weile fort von zu Hause, wurden die anderen von großer Traurigkeit erfüllt, und sie konnten es kaum erwarten, bis der so schmerzlich Vermisste wieder zu ihnen zurückkehrte, um ihr Glück komplett zu machen. Sosehr hingen sie aneinander, dass der eine der Odem des anderen zu sein schien, während der Dritte wohl das Herz des Vierten am Schlagen hielt und so fort. Die anderen Menschen aber erfreuten sich am vollkommenen Glück der sieben, und ihre Liebe war ihnen Vorbild und Ansporn gleichermaßen, ihnen nachzueifern und gleichzukommen, auch wenn dies keinem auch nur im Entferntesten gelingen mochte.
Da geschah es, dass die Kunde von den sieben an das Ohr des Schwarzen Fürsten drang. Zunächst wollte er die Geschichte kaum glauben. Als er sich jedoch von ihrem Wahrheitsgehalt überzeugt hatte, gärte und bohrte es in ihm, denn eine derart tiefe Liebe wollte ihn, dem der Hass als täglich Brot diente und der den Verrat so dringend zum Leben benötigte wie andere die Luft zum Atmen, schier in den Wahnsinn treiben. Er versuchte Zwietracht zu säen zwischen den Geschwistern und sie gegeneinander aufzuwiegeln. Doch was er auch unternahm und was er auch tat, es wollte ihm einfach nicht gelingen, sie zu entzweien. Kein Mittel, zu dem er griff, vermochte etwas auszurichten gegen ihre Liebe, selbst Tonnen von Gold und Silber nicht. So befiel den Schwarzen Fürsten der blinde Wahn.
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