Laura Leander 02 - Laura und das Siegel der Sieben Monde
Abendrot überzog die Welt mit seinem zarten Glanz, und über dem weit entfernten Horizont gleißte und strahlte ein leuchtendes Band aus orangegoldenem Licht wie zur Feier eines erfolgreichen Tages. Doch Laura war alles andere als zum Feiern zumute. Im Gegenteil: Tiefe Mutlosigkeit hatte sie erfasst. Die Nacht des Ostarafestes brach an, und in wenigen Augenblicken würde sich die magische Pforte öffnen.
Laura hob den Kopf und starrte hinüber zu der kleinen Insel. Sie hatte sich an das Ufer des Drudensees zurückgezogen, weil sie allein sein wollte in der wachsenden Verzweiflung. Tatsächlich: Die Nebelschlieren, die über der Insel lagen, ballten sich mehr und mehr über der Mitte des Eilands zusammen und begannen bereits ganz sanft zu leuchten, als würden sie von innen heraus angestrahlt. Bald würde der geheimnisvolle Pfad, der nach Aventerra führte, von den Wissenden beschritten werden können, auch wenn alle anderen Menschen davon nicht das Geringste bemerkten. Wenn überhaupt, würden diese die Pforte lediglich als seltsames Lichtphänomen erleben, aber die Wahrheit nicht erkennen können, die hinter der Oberfläche verborgen lag. Doch Laura würde ihr Wissen um das große Geheimnis, das die Erde und Aventerra miteinander verband, nicht das Geringste nutzen. Sie war nicht einen Schritt weitergekommen in den letzten beiden Tagen. Weder hatte sie das Rätsel zu lösen vermocht noch das Geheimnis ergründet, das das Siegel der Sieben Monde umgab.
Sie hatte versagt.
J ämmerlich versagt.
Und deshalb war ihr Vater nun dem sicheren Tode geweiht.
Der Schrei eines Adlers riss Laura aus ihrem Grübeln. Überrascht sah sie auf und erblickte den Vogel mit den mächtigen Schwingen, der direkt über der Insel kreiste. Im Licht des Abendrots hatte es den Anschein, als bestehe sein Gefieder aus leuchtenden Flammen. Erneut ließ der Adler seinen herrischen Ruf erschallen, dann flog er davon. Direkt in Richtung des großen Turms, der sich an der Ostseite von Burg Ravenstein erhob. Augenblicke später hatte die Dunkelheit ihn verschluckt. Keine Spur war mehr von ihm zu entdecken – und doch war Laura sich ganz sicher, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Sie hatte den Adler leibhaftig erblickt – den Boten des Lichts. Und plötzlich stieg neue Hoffnung in ihr auf.
Laura hastete an den Sandsteinlöwen vorbei und eilte die große Freitreppe empor. Portak, der Steinerne Riese, verzog das graue Gesicht und beobachtete das Mädchen besorgt. Nachdem es im Portal verschwunden war, warf er Latus und Lateris einen hastigen Blick zu, und jeder, der im Stande war, hinter die Oberfläche der Dinge zu sehen, hätte erkennen können, dass auch die geflügelten Löwen in größter Sorge waren.
Laura war bereits an dem Gemälde in der Eingangshalle vorbei, als ihr auffiel, dass die Weiße Frau aus dem Bild verschwunden war. Nur der schwarze Wolf lag noch auf der einsamen Waldwiese, während im Bildhintergrund die Silhouette von Burg Ravenstein durch die Bäume schimmerte.
Das Mädchen blieb stehen und starrte überrascht auf das Ölgemälde. Was war geschehen? Warum hatte Silva ihren Platz verlassen?
Wohin war sie nur gegangen?
Laura legte den Kopf schief und musterte das Bild aus der Zeit des Grausamen Ritters grübelnd, als sie aus den Augenwinkeln ein weißes Schimmern wahrnahm. Sie schaute auf und bemerkte gerade noch eine Gestalt im Treppenhaus über ihr, die um die Ecke wischte – das musste Silva gewesen sein, kein Zweifel.
Ohne langes Nachdenken hastete Laura die Treppen hoch. Sie hatte fast schon das oberste Geschoss erreicht, als sie endlich erkannte, dass sie sich nicht getäuscht hatte: Es war tatsächlich Silva, die ohne sichtbare Bewegung dahinschwebte und soeben in den langen Flur des vierten Stocks einbog. Die Frau in Weiß glitt ohne besondere Hast dahin, sodass Laura sie bald eingeholt hatte.
»Was ist denn los, Silva?«, sprach das Mädchen sie an. »Wo willst du hin?« Als die junge Frau sich ihr zuwandte, sah Laura mit Schrecken, dass heiße Tränen über deren bleiche Wangen rannen. »Du weinst doch nicht schon wieder meinetwegen?«, fragte sie ängstlich.
Trotz des Kummers, der sie beseelen musste, huschte ein Lächeln über das Gesicht der Weißen Frau. »Nein, Laura. Ich vergieße meine Zähren nicht deinetwegen – diesmal nicht. An einem Tag wie diesem kann ich einfach nicht anders, als mein eigenes Schicksal zu beweinen.«
Laura schluckte, und der Gedanke an das traurige Geschick der armen Silva
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