Laura Leander 06 - Laura und das Labyrinth des Lichts
alle damit zusammenhängenden Ereignisse verlieren würde. Offensichtlich ist das jedoch nicht der Fall, sonst wäre sie nicht so schrecklich unglücklich.«
Während sowohl Percy als auch Anna und Marius zustimmend nickten, schüttelte Direktor Morgenstern bedächtig den Kopf. »Du irrst dich, Mary«, widersprach er mit Nachdruck. »Die entsprechenden Erinnerungen sind tatsächlich aus Lauras Gedächtnis getilgt.« Erneut wandte er sich an Anna Leander. »Oder hat sie dich jemals gefragt, warum du so lange verschwunden warst?«
»Nein, noch nie«, bestätigte Anna. »Laura erinnert sich weder an meinen angeblich tödlichen Unfall vor vielen Jahren, noch daran, dass diese Sayelle danach meine Stelle eingenommen hatte. Auch dass Marius über ein Jahr in der Dunklen Festung gefangen gehalten wurde, hat sie vollständig vergessen. Laura ist der festen Überzeugung, dass unsere Familie bisher ein völlig normales Leben geführt hat. Sie hat daran niemals Zweifel geäußert.«
»Aber warum ist Laura dann so überaus unglückliisch?«, wandte der Sportlehrer ein. »Es muss doch einen Grund ’aben, wes’alb sie zu niischts me’r Lust ’at und selbst i’ren einstmals größten Leidenschaften, dem Reiten und Feschten nämliisch, niischts me’r abgewinnen mag.«
»Vielleicht«, überlegte Anna Leander laut, »sind das ganz normale Veränderungen. Immerhin ist sie jetzt vierzehn und steckt zu allem anderen mitten in der Pubertät. Da tun Mädchen manchmal seltsame Dinge, haben Launen und wollen von einem Tag auf den anderen alles anders haben als vorher.«
»In diesem besonderen Fall bin ich anderer Meinung«, widersprach der Professor energisch und erhob sich. »Ich glaube vielmehr, dass Lauras Probleme hauptsächlich durch ihr Unterbewusstsein verursacht werden.« Er schritt langsam im Zimmer auf und ab und erläuterte seine Überlegungen. Lukas hatte ihm von seiner Theorie über Lauras immer wiederkehrende Albträume berichtet, und das war der Anstoß zu Morgensterns eigenen Gedanken gewesen. »Der Junge hat Recht«, erklärte der alte Herr. »Während sämtliche Erinnerungen an ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten und Erlebnisse aus Lauras Bewusstsein getilgt wurden, sind sie in ihrem Unterbewusstsein immer noch vorhanden. Was nicht nur ihre Träume erklärt, sondern auch ihren Gemütszustand. Hier in Ravenstein wird sie ständig mit Personen und Dingen konfrontiert, die in ihren Abenteuern eine Rolle gespielt haben. Dadurch wird ihr Unterbewusstsein veranlasst, entsprechende Signale an ihr Bewusstsein zu senden. Da dieses die Signale allerdings nicht richtig einordnen kann, wird Lauras Zwiespalt immer größer.«
»Nehmen wir an, Sie hätten Recht«, wandte Marius ein. »Gibt es denn eine Möglichkeit, Lauras Unterbewusstsein zu beeinflussen?«
Professor Morgenstern runzelte die Stirn. »Nicht, dass ich wüsste.«
»Heißt das, diese Erinnerung bleibt auf Dauer in Lauras Unterbewusstsein gespeichert?«
»Ich fürchte ja.«
»Einen Moment, s’il vous plaît «, kam Percy Valiant Marius zuvor. »Würde das niischt auch bedeuten, dass Laura siisch i’rer Fä’iischkeiten wieder entsinnen würde, wenn sie ein weiteres Mal in ihre Traumgestalt schlüpft?«
»Das halte ich sogar für äußerst wahrscheinlich«, antwortete der Professor. »Und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Traumreisen sind bekanntlich erst dann möglich, wenn man alle bewussten Gedanken verdrängt und sich in eine tiefe Trance versetzt. Der Zustand eines Traumreisenden ähnelt somit ganz stark dem eines Träumers, wie auch umgekehrt jeder Mensch im Schlaf seinem Traum-Ich ganz nahe ist.«
»Natürliisch!« Percy hatte offensichtlich schlagartig begriffen, worauf der alte Herr hinauswollte. »Da die Traumgestalt dem Unterbewusstsein entspringt, würde Laura in diesem Zustand vermutliisch auch ihre ungewö’nliischen Fähigkeiten zurückerlangen!«
»In der Tat«, antwortete der Direktor. Er schmunzelte über Percys Eifer. »Zumindest würde sie sich an das erinnern, was sie während ihrer verschiedenen Traumreisen erlebt hat.« Das Lächeln wich von seinen Lippen, und er wurde wieder ernst. »Die Sache hat allerdings einen Haken.«
Percy Valiant verzog das Gesicht. »Und der wäre?«
»Da Laura vergessen hat, wie sie sich in ihre Traumgestalt versetzen kann, bleibt ihr diese Möglichkeit verschlossen.«
Anna Leander räusperte sich. »Das alles ist zweifelsohne interessant, führt uns jedoch ziemlich weit vom eigentlichen Thema
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