Laura Leander 06 - Laura und das Labyrinth des Lichts
er Ochsenkopf war die höchste Erhebung der Gegend und ragte weithin sichtbar aus der hügeligen Landschaft hervor. Er lag nicht allzu weit von Ravenstein entfernt. Mit dem Fahrrad brauchte man vielleicht eine knappe Stunde bis auf den Gipfel. Vorausgesetzt natürlich, man war kräftig und verfügte über eine entsprechende Kondition, wie Laura sie einmal besessen hatte.
Doch bereits auf dem Hinweg musste Lukas feststellen, dass seine Schwester meilenweit von ihrer alten Form entfernt war. Bei früheren Radtouren hatte er immer erhebliche Mühe gehabt, mit ihr mitzuhalten, und meist hatte Laura ihn nach kürzester Zeit abgehängt. Dieses Mal jedoch war es beinahe umgekehrt. Sie hatten die Burg kaum verlassen und höchstens zwei Kilometer zurückgelegt, als das Mädchen schon schnaufte wie eine Dampfmaschine. Dicke Schweißbäche rannen über ihr Gesicht, dabei war es nicht einmal übermäßig warm. Laura war offensichtlich völlig außer Tritt, und erst nach über einer Stunde erreichten sie die Blockhütte auf dem Ochsenkopf, wo die Mountainbike-Strecke ihren Ausgang nahm.
Der Startplatz lag rund fünfzig Meter unterhalb der Kuppe. Von dort verschaffte sich Lukas erst einmal einen Überblick über die Route. Der Ochsenkopf konnte sich wahrlich nicht mit einem Alpengipfel messen und war gerade mal knapp eintausend Meter hoch. Trotzdem reichte das für ein steiles Wegstück zu Beginn des Parcours, über ein ziemlich unebenes und entsprechend holpriges Geröllfeld. Danach wurde die Strecke etwas flacher, dafür aber auch wesentlich schmaler, bis sie schließlich in eine tief ausgefahrene Spurrille überging, kaum breiter als ein Trampelpfad. Bevor die Abfahrt mit einer rasanten Biegung hinter einem Wäldchen verschwand und sich somit Lauras und Lukas’ Blicken entzog, wies sie einige enge Kurven auf, die teilweise so scharf verliefen, dass sie das gesamte Können eines Fahrers erforderten. Schon der kleinste Fehler konnte einen Sturz zur Folge haben, wie Lukas erkannte.
Auweia – das ist bestimmt nicht einfach!
Er warf der Schwester einen verstohlenen Blick zu. Lauras Gesicht sprach Bände: Offensichtlich war ihr genauso mulmig zumute wie ihm. »Sieht wahrscheinlich viel schwieriger aus, als es ist«, versuchte er ihr Mut zu machen. »Wir müssen das Ganze nur vorsichtig angehen. Dann kann nichts passieren.«
Laura schluckte. »Ich hoffe, du hast Recht«, antwortete sie mit belegter Stimme, während sie ängstlich talwärts starrte.
Lukas zögerte. War es vielleicht doch besser, alles abzublasen? Er wusste schließlich aus Erfahrung, dass man ein schwieriges Vorhaben in der Regel nur dann meistern konnte, wenn man vom Erfolg überzeugt war. Hegte man hingegen Zweifel, war man meistens von vornherein zum Scheitern verurteilt. Auch seine Schwester erweckte ganz und gar nicht den Eindruck, als traue sie sich zu, die ebenso steile wie kurvenreiche Abfahrtsstrecke problemlos zu bewältigen – eher im Gegenteil!
Sollten sie es dennoch wagen?
»Hör zu«, sagte er schließlich. »Wir müssen da nicht runterfahren. Wenn es dir lieber ist, kehren wir einfach um und fahren auf der Straße wieder zurück.«
»Ach, Quatsch!«, widersprach Laura verärgert. »Dann hätten wir den weiten Weg ja umsonst gemacht. Außerdem hast du Recht. Wenn wir da nicht runterbrettern wie die Irren, kann wirklich nichts passieren. Du hast meine Bremsen doch repariert, oder?«
»Natürlich«, versicherte Lukas rasch. »Sie sind wieder bestens in Schuss – garantiert!«
»Na also.« Laura zog prüfend an den Griffen. Lukas hatte nicht zu viel versprochen: Sowohl die Vorderrad- als auch die Hinterradbremse funktionierte einwandfrei. »Dann kann es ja losgehen!« Sie versuchte ihrer Stimme einen zuversichtlichen Klang zu geben, was ihr allerdings ebenso gründlich missglückte wie das aufmunternde Grinsen. »Wer fährt vorneweg? Du oder ich?«
»Ich natürlich!«, erwiderte Lukas. Irgendwie hatte er ein mieses Gefühl und wollte deshalb unter allen Umständen vermeiden, dass Laura unvorsichtig wurde und ein zu schnelles Tempo vorlegte. Wenn er die Führung übernahm, konnte er die Geschwindigkeit kontrollieren und damit verhindern, dass Laura ein unnötiges Risiko einging. »Okay«, sagte er also. »Setz endlich deinen Helm auf, damit wir anfangen können.«
Laura verzog das Gesicht. »Muss das denn sein?«
»Ja, muss es!«, bekräftigte der Junge. Als Laura sich bei der Abfahrt in Ravenstein geweigert hatte, den Helm zu tragen, hatte
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