Lauras Bildnis
selbständiger geworden, und auch ich schien mich in diese Richtung zu entwickeln. Wir ließen uns mehr Freiräume, ohne dies auszunutzen. Vielleicht war alles ein wenig zu perfekt. Es war ungewöhnlich, wie selten wir uns stritten. Heute glaube ich sagen zu dürfen, wir hielten es mehr mit der Freundschaft als mit der Liebe.
Jeden Freitag nachmittag nach Dienstschluß fuhr ich aufs Land in unser kleines Bauernhaus mit dem großen Garten. Meine Frau bewohnte es die ganze Woche über, während ich von Montag bis Freitag die Abende und Nächte in einer kleinen Stadtwohnung in der Nähe des Museums verbrachte. Nach Jahren ständigen Zusammenlebens haben wir diese Lösung als angenehm empfunden. Sie ließ uns genügend Alleinsein, das uns inzwischen wie eine gute Grundierung für die wechselnden Bilder des Zusammenseins erschien. An den Wochenenden schalteten wir vollkommen ab von unseren Berufen. Ich arbeitete viel im Garten oder las Bücher, die nichts mit meiner Arbeit zu tun hatten.
Diesmal war es anders. Die Häutung wollte mir nicht gelingen. Ich dachte beständig an das Bild in meiner Werkstatt. Meine Frau wunderte sich, warum ich so gereizt und zugleich geistesabwesend war. Sie schob es auf meine Verletzung, und ich sah mich außerstande, ihr die wahren Gründe meiner Unruhe zu erklären. Ich konnte das Wiedersehen mit meiner Gentildonna kaum erwarten.
In der Nacht von Sonntag auf Montag hatte ich einen furchtbaren Traum. Ich sah einen Regenbogen, der auf dem Kopf stand. Wie eine riesige Sichel mähte er rotes Gras. Ich erwachte mit einem trockenen Mund. Meine Frau neben mir drehte sich seufzend auf die andere Seite. So lagen wir voneinander abgewandt bis zum Morgengrauen.
Als ich endlich wieder in meinem Arbeitszimmer war, begann ich augenblicklich mit den Untersuchungen. Zunächst konzentrierte ich mich auf die Stirnverletzung. Aus der Infrarotaufnahme ging eindeutig hervor, daß sie gemalt, also ein körperliches Merkmal war. Ich arbeitete den Vormittag über verbissen und im Zustand großer Erregung. An diesem Tag war ein Treffen sämtlicher Wissenschaftler des Hauses vereinbart. Auch ich war eingeladen, aber ich ging nicht hin. Ich entnahm vielmehr mit dem Skalpell eine winzige Probe aus dem Bild, um unter dem Mikroskop den Aufbau der Farbschichten zu analysieren. Es waren mehr, als ich erwartet hatte. Dies ließ auf eine Übermalung schließen. Im Streiflicht bemerkte ich in der Tat reliefartige Strukturen, die auf ein zweites Bild unter der Gentildonna hindeuteten. Auch die Infrarotaufnahme der Stirnnarbe zeigte mysteriöse Strukturen, die man als Linien eines zweiten Gemäldes deuten konnte. Um mir Klarheit zu verschaffen, mußte ich zum Mittel der Röntgenaufnahme greifen. Röntgenstrahlen dringen tief ein, andererseits werden sie von bleihaltigen Farben wie Bleiweiß verschluckt. Wenn man Glück hat, kann eine Röntgenaufnahme erstaunlich deutliche Auskunft über die Entstehung eines Bildes geben.
Ich wußte, daß jede Bestrahlung ein Bild um zehn Jahre altern läßt. Die gemalte Gentildonna mochte über sechshundert Jahre alt sein. Sollte ich ihr die zusätzlichen Lebensjahre zumuten? Ich glaube, ich sah sie mit einem liebevoll-wehmütigen Blick an, als ich die Bleischürze überstreifte. Dann machte ich mehrere Aufnahmen, die ich sofort zur Entwicklung weitergab.
Gegen zwölf Uhr erschien Dr. Labisch. Er stand wie gewöhnlich mit hängenden Schultern vor mir und lächelte mich trübselig an. ‘Deshalb sind Sie nicht gekommen’, sagte er. Er deutete auf das Bild. ‘Man hat Sie vermißt. Der Chef hatte einige Fragen, die Beleuchtung im Neubau betreffend. Nur Sie hätten sie beantworten können. Es ist wirklich ein außerordentliches Bild. Wirklich außerordentlich.’
Dr. Labisch stand vor der Leinwand und fuhr mit ausgestrecktem Finger die Schulterpartie der Gentildonna nach. ‘Meiner Meinung nach ist es ungewöhnlich früh zu datieren. Es verrät eine für die Anfänge der Renaissance typische Schwankung zwischen allegorischer und individueller Auffassung der Person. Sehen Sie das Zepter?’ Dr. Labisch lächelte mich mitwisserisch an. Ich wußte, daß er nie Liebesaffären hatte. Als Dr. Labisch ging, nickte er mir zu wie einem, dem Mitleid gezollt werden muß.
Am Nachmittag erhielt ich die Röntgenfotos. Sie zeigten Teile eines Männerkopfes, der sich bei überraschender Kongruenz der Details unter dem Frauenkopf befand. Augen lagen unter Augen, Nase unter Nase, Mund unter Mund. Ich war
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