Lauras Bildnis
anbetende Position. Ihre Hände lagen in ihrem Schoß. Sie berührten fast den unteren Bildrand. Die rechte Hand hielt ein paar spitzenbesetzte, halb durchsichtige Handschuhe. Die linke hielt zwischen Daumen und abgespreiztem Zeigefinger ein zepterähnliches Utensil. War es ein ironischer Hinweis auf jene Macht, die eine schöne Frau über gesellschaftlich weit über ihr stehende Männer auszuüben versteht?
Im Hintergrund, links neben ihrem Kopf, erblickte man eine Phantasielandschaft. Ihre Umrandung war so gemalt, daß man nicht genau wußte, ob es sich um ein gemaltes Bild oder ein Fenster handelte. Es war eine südliche Landschaft, die alles enthielt, was es an hervorstechenden Merkmalen der Natur gibt. Das Meer, Berge, Wälder, einen Fluß, einen Wasserfall. Ich entschied mich für die Deutung, diesen Teil des Bildes für ein Fenster zu halten. Die Landschaft war von einer solchen Tiefe, daß sie den Blick förmlich ansaugte, wodurch für den Betrachter ein Interessenkonflikt entstand, denn eigentlich sollte nur die Schönheit des Frauengesichtes seine Augen fesseln.
Ich blickte der Gentildonna endlich voll ins Gesicht. Dies war keineswegs einfach wegen der erwähnten Stellung ihrer Augen. Sie waren nicht nur abwärts, sondern auch leicht zur Seite gewandt. Dennoch befand man sich nahe der optischen Achse ihres Blicks, ja man konnte sich durchaus noch im Schärfebereich ihres Sehfeldes wähnen, übersehen und zugleich heimlich begutachtet.
Welch einen Mund hatte sie! Die Lippen waren auffallend asymmetrisch. Ich deckte mit der Hand mal die eine, mal die andere Hälfte des Mundes ab. Als ich dabei flüchtig die Leinwand berührte, durchfuhr es mich wie jener süße Schmerz, der mit der allerersten Berührung zweier Liebender verbunden ist.
Mein Experiment machte es deutlich: Dieser Mund hätte zwei Personen gehören können. Einer sanften und warmherzigen und einer kühlen und spöttischen. Das Lippenpaar war ein wenig geöffnet. Setzte sie zum Reden an oder zum Schweigen? Der Reiz des Bildes schien nicht zuletzt in all diesen widersprüchlichen Deutungsmöglichkeiten der Physiognomie zu bestehen. Welch ein Geheimnis verbarg sich hier oder welch eine Banalität?
Der Eindruck des Geheimnisvollen überwog allerdings, vielleicht wegen eines Details, das mir erst spät ins Auge fiel: Die Gentildonna hatte eine tiefe Narbe auf ihrer sonst so reinen und kindlich gewölbten Stirn. Eng neben der linken Schläfe zog sie sich bis zum Haaransatz. Ich trat dicht an das Bild heran und leuchtete wie ein untersuchender Arzt mit meiner kleinen Taschenlampe schräg gegen die Stelle. Streiflicht nennt man dies. Es gehört zu den klassischen Untersuchungsmethoden unseres Berufs. War es eine gemalte Verletzung, oder war es eine Verletzung der Malerei? Die Stirn wirkte ein wenig eingedellt. Dies konnte durchaus auch die Folge einer Unebenheit im hölzernen Bildträger sein. Klarheit würde hier erst eine Infrarotuntersuchung bringen.
Eines stand für mich fest: Ich hatte einen sensationellen Fund gemacht, wie er in den Depots heutiger Museen selten geworden ist. Es handelte sich um ein hervorragend gelungenes Tafelbild der Frührenaissance. Es schien mir in einem außergewöhnlich guten Zustand zu sein. Die Kraft der Temperamalerei war in diesem Falle nicht oder kaum durch die Pfuschereien späterer Restauratoren geschwächt worden.«
Francesco erhob sich von dem Stein, auf dem er saß, und ging eine Weile hin und her. Die niedrige Höhlendecke zwang ihn, den Kopf einzuziehen. Bei seiner Wanderung machte er jeweils vor Monsieur Bazin oder Madame Régusse kehrt, als wolle er mit seiner Bewegung eine Verbindung zwischen beiden herstellen. Seine beiden Zuhörer stellten keine Fragen.
Der Regen hatte aufgehört. Und endlich waren auch vereinzelt Frösche und Zikaden zu hören. Schließlich setzte sich Francesco mit einem Seufzer. Erst nachdem er sich mit einem großen Schluck aus der Rotweinflasche gestärkt hatte, fuhr er fort.
»Das Bild war nicht signiert. Dies ist nichts Ungewöhnliches für ein Gemälde jener Zeit. Selbst bei ihren größten Meistern war ein Künstlerbewußtsein im heutigen Sinne erst rudimentär entfaltet. Die Genies empfanden sich, genauso wie die unbedeutenderen Maler, noch als anonyme Sachwalter einer göttlichen Fähigkeit der Pinselführung. Also gab es noch nicht jene Eitelkeit und Ichbezogenheit, die den Künstler dazu treibt, sein Bild mit seinem Namen zu markieren, ganz so, wie es Hunde mit ihren
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