Laurins Vermächtnis (German Edition)
davon in der Schule gehört. Manchmal ließ er diese Erklärungen auch in seinen Unterricht an der Volkshochschule in Bozen einfließen, wo er Kurse in Englisch und Deutsch als Fremdsprache gab. Aber eigentlich fand er diese Interpretationen alle langweilig und ein bisschen weit hergeholt. Was ihn dagegen faszinierte, war die Sage von „König Laurins Rosengarten“, die ihm sein Großvater einmal und dann immer wieder erzählt hatte. Vor allem die Einzelheiten des Kampfes zwischen Laurin und den Recken um den Fürsten Dietrich von Bern variierte Karl Jäger oft. Sie gerieten bisweilen sehr ausführlich und manchmal waren die Details auch blutiger, als es Matthias‘ Eltern gerne gehabt hätten. Aber erstens konnte der Junge nicht genug davon kriegen, auf Nonnos Schoß zu sitzen, seiner warmen, bärigen Stimme zu lauschen und dabei ins Kaminfeuer zu schauen. Zweitens gehörten diese Abendstunden in der Bibliothek nur ihm und seinem Großvater, auf die sein Vater und seine Mutter so wenig Einfluss hatten wie auf vieles andere. Es war zwar ein schockierender Einschnitt im Leben des zwölfjährigen Matthias, als seine Eltern mit dem Auto tödlich verunglückten, aber weil er die Zeit sowieso am liebsten mit Nonno und Nonna verbrachte, gelang es ihm einigermaßen gut, den Verlust zu verarbeiten. Matthias hatte zwar bisweilen ein schlechtes Gewissen, seine toten Eltern nicht stärker zu vermissen, aber andererseits – es war, wie es war.
Wenn man von Tiers, also von Westen aus, auf den Rosengarten schaut, sieht man in der Mitte die Rosengartenspitze und etwas links davon die Vajolettürme. Aus der Ferne waren sie Matthias immer wie Haifischzähne erschienen. Dort oben ist das „Gartl“ – ein ungewöhnlicher Name für eine Geröllhalde. Aber genau auf dieser Fläche befand sich einst der Sage nach der wunderschöne Rosengarten des Zwergenkönigs Laurin.
Laurin war der Herrscher eines Zwergenvolkes und lebte in einem unterirdischen Palast aus Bergkristall. Doch sein besonderer Stolz war der prächtige Rosengarten vor dem Eingang zu seiner Burg. Dieser Garten war statt von einem Zaun von einem Seidenfaden umgeben. Jedem, der es wagen sollte, eine der Rosen zu pflücken oder auch nur den Faden zu zerreißen, wollte Laurin die linke Hand und den rechten Fuß abhacken. Dazu wäre er durchaus in der Lage gewesen, denn seine Tarnkappe und sein Zaubergürtel, der ihm die Kraft von zwölf Männern verlieh, machten ihn beinahe unbesiegbar. Das Einzige, was König Laurin zum Glück noch fehlte, war eine Braut. Eines Tages erfuhr er, dass der König an der Etsch alle Adeligen aus der Umgebung zu Kampfspielen einladen wollte, weil er seine schöne Tochter Similde zu vermählen gedachte. Aber kein Bote kam, um ihn zu dem Wettbewerb zu bitten. So beschloss Laurin, unter dem Schutz seiner Tarnkappe heimlich ins Tal zu reiten. Noch bevor die Kampfspiele beendet waren, raubte er die Königstochter und nahm sie auf dem Pferd mit hoch in seinen Bergpalast. Daraufhin machten sich mehrere Kämpfer, unter ihnen Dietrich von Bern, auf, Similde zu befreien. Der prächtige Rosengarten verriet den Recken das Versteck des Zwergenkönigs. Trotz der Tarnkappe und des Zaubergürtels gelang es den Kämpfern, Laurin zu bezwingen und gefangen zu nehmen und die Königstochter zu befreien. Als die Sieger den in Ketten gelegten Zwergenkönig von dessen Felsenfestung wegführten, drehte sich Laurin noch einmal um und belegte den Rosengarten, der seinen Bezwingern den Weg verraten hatte, mit einem Fluch: Fortan sollte kein Mensch mehr diese Rosen sehen, weder bei Tag noch bei Nacht. Der Zwergenkönig hatte aber die Dämmerung vergessen, und so kam es, dass der verzauberte Rosengarten den Berg jeden Tag bei Sonnenuntergang in ein rötliches Licht taucht.
Immer wenn Nonno diese Geschichte zu Ende erzählt hatte, war dem kleinen Mattes ganz tragisch zumute. Ein Bergkristallpalast, ein Rosengarten – alles hoch oben auf dem Berg – was für ein großartiges Dasein musste das sein. All das hat Laurin zerstört, indem er, statt sich eine schöne Zwergenfrau zur Braut zu nehmen oder im Wettbewerb um Similde zu kämpfen, die Königstochter raubte. Und so musste er das Ende seiner Tage als Gefangener erleben.
Karl Jäger beschloss sein Leben als freier Mann, doch war er vielleicht auch so etwas wie ein Räuber?
Dieser Gedanke legte sich gerade schwer auf Matthias‘ Schultern, als es von der Straße her hupte und jemand rief: „Ciao Mattes, wie schaut‘s
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