Laurins Vermächtnis (German Edition)
verlassen und sonst hatte hier niemand etwas verloren. Trotzdem widmete er sich noch ein paar demonstrativ lange Augenblicke den Rechnungen, bevor er aufblickte. Er hasste es in der Tat, wenn Matthias in einem solchen Aufzug durchs Haus schlurfte, außerdem konnte er es nicht ausstehen, dass der grundsätzlich ohne anzuklopfen das Büro betrat. Zwar gehörte das Hotel den Brüdern zu gleichen Teilen, aber irgendwie war es doch „sein“ Büro, zumindest war er derjenige, der es zum Arbeiten benutzte.
„Was gibt‘s“, fragte Rainer seinen Bruder, der entgegen seiner Gewohnheit in der Tür stehengeblieben war und sich nicht gleich in den abgewetzten rotbraunen Ledersessel gegenüber vom Schreibtisch gesetzt hatte.
„Ich muss Dir etwas erzählen, am besten jetzt.“
Matthias klang heiser und er sah, wie Rainer nun erst bemerkte, nicht gut aus. Seine Augen waren rot, das Gesicht fahl und sein brauner Haarschopf, der normalerweise wirkte, als hätte gerade der Wind durchgeblasen, klebte ihm am Kopf. „Okay“, sagte Rainer, „aber tu‘ mir einen Gefallen: Dusch dich, zieh‘ Dir was Vernünftiges an und dann komm‘ in die Bibliothek. Ich mach‘ dir inzwischen einen Kaffee.“
Der Kaffee war gut, so wie alles, was aus der Küche des Jägerhofes kam, und natürlich hatte Rainer den Kaffee nicht gemacht, sondern machen lassen. Matthias Jäger hielt die Tasse in beiden Händen, wie wenn er fröstelte, dabei war es kein bisschen kalt in der Bibliothek. In der Luft hing noch der Geruch des Kaminfeuers vom Vorabend. Dieser Raum war einer der beliebtesten im Jägerhof. Die Gäste saßen dort abends gerne in den ausladenden weichen Ledersofas, hörten das Knacken des brennenden Holzes im Kamin und lasen. Entweder einen der abgegriffenen Schmöker, die viele zum Ende ihres Aufenthalts für künftige Gäste daließen, oder ein altes Buch aus den bis zur Decke reichenden vier Meter hohen Regalen. Manche dieser Bücher stammten noch von Matthias‘ und Rainers Urgroßvater, der den Jägerhof 1904 erbaut hatte und dessen Porträt neben dem Kamin an der Wand hing.
Matthias Jäger saß barfuß, in Jeans und einem dunkelgrauen „Harley-Davidson“-Sweatshirt auf einem der Sofas, die Beine angezogen bis zur Brust. Er schaute seinen Bruder an, der ihm in Anzug und weißem Hemd gegenübersaß. Rainer war wie immer früher aufgestanden als Matthias, sein Tag war verplant und nun wartete er, was sein Bruder ihm Dringendes zu sagen hätte. Rainers blässliches Gesicht unter den kurz geschnittenen dunkelroten Haaren war ausdruckslos, aber seine Finger, mit denen er auf den Oberschenkeln trommelte, verrieten Ungeduld und – wie es Matthias schien – durchaus auch ein wenig Unsicherheit. „Also – was?“ fragte Rainer. In seiner Stimme lag Unmut – darüber, dass Matthias ihn störte, dass er ihm seine Zeit stahl und nicht wenig darüber, dass er barfuß durchs Hotel lief und nun mit nackten Füßen auf dem Sofa saß.
„Ich war gestern Abend bei Nonna im Krankenhaus“, sagte Matthias. „Es geht ihr nicht gut.“
„Natürlich nicht. Wie soll es einer 86 Jahre alten Frau gehen, die Metastasen im ganzen Körper hat?“
„Sie hat viel über Nonno geredet.“
„Ja, und?“
„Sie hat darüber gesprochen, was mir Nonno bedeutet hat, wie sehr ich ihn geliebt habe und dass er immer mein Vorbild war.“
„Glaub mir, ich habe unseren Großvater auch geliebt, ich vermisse ihn seit sieben Jahren jeden Tag.“
„Sie hat gesagt, kein Mensch lebt sein ganzes Leben lang tadellos, auch nicht der, den wir vielleicht am meisten lieben. Sie hat gesagt, sie hat Angst, dass ich eines Tages Dinge über meinen Großvater erfahre, die ich nicht verstehen kann und dass dann niemand mehr da sein wird, der sie mir erklärt.“
„Hör zu, unsere Großmutter bekommt starke Schmerzmittel, sie verliert immer mal wieder das Bewusstsein, wer weiß, welcher Film da gerade in ihrem Kopf ablief?“
„Rainer!“
Matthias Jäger stellte in einer – gemessen an seiner Müdigkeit – ziemlich schnellen Bewegung seine nackten Füße vom Sofa auf den Boden. Er schnellte mit dem Oberkörper nach vorne und knallte die Tasse auf den Beistelltisch, der zwischen den Sofas stand – so heftig, dass ein wenig Kaffee auf den Boden schwappte. „Nonna war vollkommen klar, sie hat deutlich gesprochen, mir in die Augen gesehen und ...“
Matthias stockte. Er sah seinen Bruder an, aber der erwiderte den Blick nicht, sondern starrte auf den Boden, auf die
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