Lauter reizende Menschen
Sprung in die Stadt. Unser Generator wollte nicht mehr, und wenn ich das benötigte Ersatzteil nicht schnell herangeholt hätte, wären wir ohne Wasser und Strom geblieben. Da habe ich natürlich gleich die Gelegenheit benutzt, auch andere Vorräte mitzubringen: Man kauft dort günstiger ein als in Lakeville.«
»Welche Harmonie der Gegensätze: Absolute Weltabgeschiedenheit — und Motorboot und Flugzeug!« Beim unerwarteten Klang der Stimme zuckte Lucia zusammen: Wieder einmal stand Ross plötzlich neben ihr, ohne daß sie sein Kommen bemerkt hatte.
»Ohne die beiden Beförderungsmittel könnte ich es an einem Ort wie hier gar nicht aushalten«, lachte Nigel unternehmungslustig. »Wo steckt übrigens Jims Freund, der Inspektor? Ich hoffte schon, ihn heute abend einmal auf rein geselliger Basis zu erleben — als Bluthund, der sich in ein frommes Lamm verwandelt hat!«
»Ich habe ihn gestern abend noch gesprochen«, fiel Lucia ein. »Er sagte, er wolle heute wieder abfahren.«
»Will er den Mord etwa ungelöst lassen? Das finde ich gar nicht schön. Himmel, wer kommt denn da?«
So laut und angeregt war die Unterhaltung, daß niemand das Nahen des Wagens vernommen hatte. Nun aber war die Tür aufgesprungen, und eine eindrucksvolle Gestalt, bei der alle Gäste ehrfurchtsvoll erstarrten, erschien auf der Schwelle. Atemlose Stille trat ein, lähmende Stille... auf einmal aber rannte Annabel auf die majestätische, ansehnliche Dame zu, die ihre Blicke hoheitsvoll über die kleine Gesellschaft: wandern ließ.
»Mutter! Das ist aber eine Überraschung! Noch hatten wir dich gar nicht erwartet.«
»Mein liebes Kind!« schmetterte Augusta Wharton dramatisch, wobei sie Annabel in eine gewaltige Umarmung riß. »Mein liebes Kind! Das hatte ich mir als Geburtstagsüberraschung ausgedacht! Ist sie mir gelungen?«
Jim riß sich heroisch zusammen. Nachdem er ein paarmal schwer geschluckt hatte, brachte er tatsächlich mit einigen äußeren Anzeichen von Begeisterung hervor: »In der Tat, Mutter... eine vollkommene Überraschung! Das war aber sehr... sehr umsichtig von dir!«
»Ich konnte der Versuchung, meine Tochter gerade heute heimzusuchen, einfach nicht widerstehen«, dröhnte Augusta, während die Anwesenden etwas betreten vor sich hin schauten. Die gefeierte Schriftstellerin verstand sich darauf, Erklärungen abzugeben, auf die man beim besten Willen nichts erwidern konnte.
Nur Annabel war ihr in dieser Lage gewachsen. »Es war unvorstellbar reizend von dir, Mutter«, erklärte sie liebevoll. »Hast du schon gegessen?«
»Gegessen?« wiederholte die Mutter, als habe sie dieses Wort noch nie gehört (obwohl man ihr ansah, daß sie nicht unter Appetitlosigkeit litt!). »Vor ein paar Stunden habe ich einen kleinen Imbiß zu mir genommen, etwas für den hohlen Zahn. Aber es reicht mir...«
Nachdem Annabel ihre Mutter reihum vorgestellt und sie dann entführt hatte, damit sie — nach ihren eigenen Worten — >die Verwüstungen der Reise heilen< konnte, meinte Jim grinsend zu Lucia: »Ich wette, daß sie erst vor einer Stunde eine daumendicke Scheibe Braten mit ein paar Eiern verzehrt hat; mit kleinen Imbissen fängt sie gar nicht erst an! Sie hält es mit dem Handfesten, Soliden!«
Man sollte wirklich nicht meinen, daß sie Annabels Mutter ist«, gab Lucia zurück. »Ich habe schon so manches von ihr gehört; aber die Wirklichkeit übertrifft doch alle Erwartungen!«
»Sie ist gar nicht so übel, nur muß man sich erst ein bißchen an sie gewöhnen!« gab Jim verträglich zu. »Sie redet wie ein Buch, aber sie meint es gar nicht so; und zuweilen kann sie richtig vernünftig werden. Nur eines kann ich an ihr ganz und gar nicht ausstehen: ihre Bücher!«
»Aber es sind doch ausnahmslos Bestseller!« mischte sich Ross unvermutet ein. Wollte er etwa so tun, schäumte Lucia innerlich, als verstände er etwas von moderner Literatur?
»Das kann man wohl sagen«, nickte Jim. »Die Leute verschlingen sie buchstäblich. Und sie ist so klug, genau das zu schreiben, was sie lesen wollen!«
»Aber Annabel gleicht ihr nicht im mindesten: Bei Mrs. Wharton muß man immer an eine der Personen aus ihren Büchern denken, während Annabel vollkommen normal ist!«
»Sehr richtig!« jubelte Jim. »Sie können sich vorstellen, wie froh ich darüber bin! Darauf wollen wir trinken!«
Im Schlafzimmerchen hatte Augusta der Tochter flüsternd so manche Besorgnis anzuvertrauen. »Du weißt, mein Kind, daß ich nicht überheblich bin,
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