Lauter reizende Menschen
wenn wir daheim blieben, wäre es nur noch schlimmer. Weißt du, was Mutter uns für heute nachmittag zugedacht hatte? Sie wollte uns die ersten sechs Kapitel ihres neuesten Buches vorlesen, weil sie meint, es sei oft nützlich, die Reaktion von Leuten zu beobachten, die sich nicht zu den Intellektuellen rechnen dürften!«
»Ach!« stieß Lucia verdutzt hervor. »Na, hm... vielleicht... Gewiß, da hast du nicht unrecht. Aber ich wette, daß du deine Mutter nicht zum Besuch überreden wirst. Gestern hat sie die Nase gestrichen voll bekommen!«
Tatsächlich jedoch erklärte sich Augusta bereit mitzufahren, wenngleich eher der Not gehorchend als dem eigenen Triebe. »Wenn ich mir vorstelle, ich sollte allein hier bleiben, ausgesetzt dem erneuten Angriff eines mordlustigen Fremden...«
»Du wärst doch nicht allein, Mutter! Len wäre ja bei dir.«
»Woher soll ich wissen, ob nicht auch er im Bunde mit dem Feinde steht?«
»Aber, Mrs. Wharton, wie könnte das denn sein? Trägt er nicht eine großmächtige Beule am Kopf, weil er versuchte, dem Einbrecher entgegenzutreten?« fuhr Lucia empört auf.
»Tarnung, nichts als Tarnung!« knurrte Augusta anzüglich, und die beiden jungen Frauen tauschten einen resignierten Blick. Es hatte keinen Sinn, sich mit ihr zu streiten, und außerdem war ja gerade sie es, die verwandte kunstbeflissene Seele, die Carmen zu sehen wünschte. So war es gut, daß sie sich bereit erklärte, mit von der Partie zu ein.
Lucia konnte den verrückten Verdacht, den Mrs. Wharton gegen Len geäußert hatte, nicht so schnell verwinden. »Ich muß ein bißchen zur Tankstelle hinunter, um Len abzulösen! Sicherlich macht ihm seine Beule arg zu schaffen!«
Es war zu spät, sich zu verdrücken, denn sie erkannte, daß der Wagen, der gerade an der Pumpe hielt, Ross gehörte. Er selbst stand mit Len ganz in der Nähe. Während er auf ihn einsprach, schaute der junge Mann verstockt auf seine Fußspitzen.
»Was ist denn nun schon wieder los?« fragte Lucia bissig.
»Los ist eigentlich gar nichts, Miss Field. Ich möchte von Len nur ganz genau wissen, wo er in der Nacht war, als Davis ermordet wurde.«
»Was soll das heißen: Wo er war?« fuhr Lucia auf, gleichzeitig erschrocken und wütend. »Sie wissen ganz genau, wo er war: Er lag dort in seinem Zimmer zu Bett und schlief!«
»Das trifft leider nicht zu. Er fuhr nämlich im Auto durch Lakeville — und zwar in Ihrem Auto... um elf Uhr nachts!«
»Das glaube ich nicht!« rief Lucia ohne Zögern aus. »Ich habe doch selbst gesehen, wie er in sein Zimmer ging — um neun Uhr, als ich mich zu Bett legte. Warum sollte er denn wieder aufgestanden sein? Und was sollte ihn nach Lakeville gezogen haben? Das ist doch reiner Blödsinn!«
»Wir haben unwiderleglich festgestellt«, beharrte Ross in aller Ruhe, »daß Len um elf Uhr nachts in Lakeville war. Wenn es ihm darauf ankam, hatte er also reichlich Zeit, ins Gebirge hinaufzufahren. Aber vielleicht wäre es günstiger, wenn er zu dieser Frage selbst Stellung nähme — falls es ihm ratsam erscheint.«
»Warum sollte er Stellung nehmen?« tobte Lucia. »Ich dulde es nicht, daß Sie meinen Angestellten einschüchtern, allerlei absurde Anklagen gegen ihn erheben, auch wenn Sie Kriminalbeamter sind!« Immer wütender wurde sie. »Los, entblöden Sie sich nicht, ihn auszufragen!« schrie sie. »Fragen Sie ihn, was Sie wollen! Ich werde schweigen!«
»Also gut, Len«, meinte Ross, nachdem Lucia sich beruhigt hatte. »Was haben Sie um elf Uhr in jener Nacht in Lakeville getan?«
Len warf Lucia einen dankbaren und Ross einen würdevollen Blick zu. — »Das ist meine eigene Angelegenheit, Mr. Ross!«
»Bravo, Len!« rief Lucia ungestüm. »Erklären Sie nur, Sie würden ohne Anwesenheit eines Anwalts keine einzige Frage beantworten!«
Len blickte ziemlich hilflos zu ihr hinüber. »Ich habe doch gar keinen Anwalt, Luce!« murmelte er, und Ross mußte sich abwenden, um sein Lächeln zu verbergen.
»Dann sagen Sie eben überhaupt nichts! Ich verbiete Ihnen, irgendwelche Fragen zu beantworten!« schrie Lucia unbeherrscht.
»Zum Donnerwetter!« fuhr Ross auf. »Sie tun aber wirklich, als hielte ich bereits die Handschellen bereit!«
Verzweifelt abwinkend kehrte er zu seinem Wagen zurück, aber Lucias Stimme verfolgte ihn, jagte ihm noch einen Schuß hinterher.
»Das ist wirklich der albernste aller albernen Einfälle! Sie sollten sich schämen!«
Ross gab keine Antwort, er blickte nicht einmal über die
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