Lauter reizende Menschen
>Merrygirl< kerngesund. Die Färbung des Fohlens übrigens war hervorragend getroffen, und die weißen Socken kamen prächtig zur Geltung. Jim erinnerte sich noch gut, wie er gelacht hatte, als das arme Tier im Sonnenschein hin und her gerannt war, nachdem er ihm endlich seine Freiheit gegeben hatte — an dem Tage, an dem es dann mit der Mutter auf Reisen ging.
Plötzlich setzte er sich kerzengerade auf. Der Tag, an dem er das Fohlen herausgelassen hatte, war ja der Tag des Mordes gewesen. Aber das war ja auch der Tag, an dem Carmen nach ihrer eigenen Behauptung meilenweit von den Stallungen entfernt in der Stadt gewesen war. Dennoch war es der einzige Tag, an dem sie das Fohlen überhaupt gesehen haben konnte. Das Streichholz, mit dem Jim sich eine Zigarette hatte anzünden wollen, brannte ungenutzt nieder und versengte ihm die Finger. Mit einem erschrockenen Fluch ließ er es auf die Untertasse fallen. Und dann sagte er laut: »Du bist verrückt, Mensch! Du siehst auch schon Gespenster, wie Ross, was? Dabei hat Ross wegen seines Berufes noch mildernde Umstände! Dich geht das nichts an!«
Wirklich nicht? Plötzlich fiel ihm ein, daß Annabel ihm erzählt hatte, heute nachmittag führen sie alle zu Miss Mills zum Tee. Unwiderstehlich fühlte er sich gehetzt, etwas zu tun. Ihm war, als müßte etwas Entsetzliches geschehen. Er schaute zur Uhr auf dem Wandbrett. Es war fast halb vier. Es war ihm gleichgültig, ob man ihn für verrückt hielt; aber er mußte versuchen, die andern vom Besuch in diesem Haus abzuhalten.
Er rannte zum Telefon und läutete stürmisch, bis ihm wieder einfiel, daß die Leitung gestört war. Was nun? Den Wagen hatte Annabel unten. Und im Montagelager stand im Augenblick vermutlich kein Fahrzeug zur Verfügung: Kelly hatte ihm erzählt, die Männer wollten heute sämtlich wegfahren. Meilenweit entfernt mochten sie sein, das Lager war verlassen, keine Hilfe weit und breit! Trotzdem mußte er irgendwie die Tankstelle erreichen. Sollte er reiten? Aber damit kam er zu langsam voran. Zu kurvenreich wand sich die Straße zu Tal. Bis er unten ankam, waren die andern bestimmt schon lange in Carmens Haus, bedroht von irgendeiner ungreifbaren, lauernden Gefahr, deren eigentlicher Charakter Jim noch immer unklar war, an deren Vorhandensein er jedoch keinen Augenblick lang zweifelte. Das Bild... ja, es hing damit zusammen, das Bild von dem Fohlen — der Beweis dafür, daß Carmen kein stichfestes Alibi hat. Und Carmen, das hatte er längst erkannt, war etwas übergeschnappt.
Es blieb nichts anderes übrig, als zu reiten und zu versuchen, den Abkürzungsweg zu bewältigen, der früher für Reiter bestimmt war, obwohl man ihn in jüngster Zeit für zu gefährlich hielt. Zu Fuß war Jim schon einmal hinuntergegangen und fand es nicht gerade vergnüglich. Aber jetzt mußte er reiten, diesen Weg, den man den >Hinterhalt< nannte, diesen schmalen, gewundenen, gefährlichen Pfad, der hart am Rande der Klippen entlang steil bergab führte und unten in unmittelbarer Nähe der Tankstelle endete.
Nur ein einziges Pferd konnte ihm dabei nützen: >Raubritter<. Gewiß war >Signorina< fromm und folgsam, aber sie war im Stall, im Hof, auf weiß umzäunten Koppeln von Gestüten groß geworden. Nur >Raubritter<, der im Bergland geboren und aufgewachsen war, konnte den >Hinterhalt< meistern.
Jim schaute sich im Zimmer um, und dann fuhr er herum, rollte Augustas Geschenk so ungestüm ein, daß die Leinwand knitterte und brach, stopfte es sich unters Hemd und rannte zum Stall hinüber. Jetzt erst fiel ihm auf, daß die Atmosphäre seltsam drückend und unbewegt war. Irgend etwas Unheilvolles lastete auf dem Land: »Erdbebenwetter< pflegten es die alten Pferdeburschen zu nennen. Jims Angst wurde noch quälender, und er meinte, keine einzige Sekunde mehr verlieren zu dürfen.
So eilig er es jedoch hatte, so eisern zwang er sich, ganz ruhig zur Box des Junghengstes zu treten; er achtete gut darauf, daß seine Stimme ruhig klang. Auf keinen Fall durfte er >Raubritter< seine Angst mitteilen.
»Komm schon, >RäuberRäuber<, und zwar etwas sehr Wichtiges. Und ob es gelingt, hängt von dir ab!«
Er machte die Tür der Box auf, während er so ruhig wie möglich weiter auf das Pferd einsprach: »Jetzt kannst du einmal allen Leuten beweisen, was in dir steckt! Ich habe ja immer behauptet, >Räuber<, daß du ein tüchtiger, tapferer Kerl bist. Zeige
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