Lautlos wandert der Schatten
Nachtruhe war dahin.
Wir
gehen auf dem originalen Pflaster in den frühen, nebeligen Morgen und steigen
langsam die Hochebene hinauf. Obwohl es schön war in der Gemeinschaft der
Pilger, geht jetzt wieder jeder allein; jeder für sich. Der Mystiker Johannes
vom Kreuz hat einmal geschrieben: „Wer eine Wallfahrt unternimmt, der tut gut
daran, nicht im Schwarm der Leute zu gehen. Mit der großen Volksmenge zu
pilgern, würde ich nie anraten. Sind Hingabe und Glaube da, genügt jedes Bild,
sind sie aber nicht da, so genügt keines.“
Hingabe
und Glaube halten uns auf dem Weg. Wohl kaum einer hat es unterwegs zur
Meisterschaft gebracht, er muß wieder und wieder lernen. Und selbst wenn einer
Meister geworden wäre, müßte er noch wissen, daß sehr viele Wege zu Gott
führen, und der eigene nur einer von vielen ist.
Nach
drei Stunden zeigt sich in der Ferne Burgos. Als wir vom schmalen Weg auf die
Hauptstraße stoßen, umbraust uns schlagartig der Verkehr, daß uns Hören und
Sehen vergeht. Für einen halben Tag ist es mit der Stille und dem Alleinsein
vorbei und mit aller Kraft müssen wir der Versuchung widerstehen, mit dem Bus
in die Stadt und aus ihr heraus zu fahren.
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Auch wenn die
Kirchen verschlossen sind,
Gottes Haustüren sind
immer offen
A uch
eine Stadt wie Burgos, obwohl randvoll von Erinnerungen an den Apostel Jakobus,
ist nichts für den Pilger. Die Stadt ist einfach zu groß nach dem schlichten
Weg; wir brauchen stundenlang, um die Vororte, die Großstadt und wieder die
Vororte zu durchqueren. Da gibt es die reiche Geschichte der Stadt, seine
riesige Kathedrale, freundliche und aufgeschlossene Menschen. Aber Stadt bleibt
Stadt, auch wenn Burgos die Kapitale Kastiliens ist und seit den Anfängen eine
wichtige Etappe für die Wallfahrt. In Burgos lebte El Cid, eine der
interessantesten und schillerndsten Gestalten der spanischen Geschichte.
Rodrigo Diaz de Vivar, der um 1050 in der Nähe der Stadt zur Welt kam, war
zunächst Feldherr der Spanier; nachdem er in Ungnade gefallen war, trat er zu
den Mauren über. Dieser Verrat tat seinem legendären Ruf, den er sich bis dahin
schon erworben hatte, keinen Abbruch. Im Gegenteil: Die Kastilier schätzen an
ihrem Cid, was sie an sich selber lieben, mit Gelassenheit und Härte gegen eine
ganze Welt zu kämpfen, und machten ihn zur Idealgestalt des kastilischen
Rittertums. 1094 eroberte El Cid das maurische Königreich Valencia, und mußte
sich von nun an wieder gegen die Araber verteidigen. An der Brücke San Martin
befindet sich ein Maß, das die Länge seines Schwertes angibt.
Die
Kathedrale, in der Diaz de Vivar mit seiner Gattin beigesetzt ist, ist ein
gotisches Wunderwerk, drei deutsche Meister aus Köln bauten am ihm mit. Es
hätte Tage gedauert, wenn wir alle Zeugnisse der Vergangenheit hätten sehen
wollen: Die Nikolauskirche, das Kloster Santa Maria la Real de las Huelgas, das
Hospiz San Juan und das Hospital del Rey. Hier bekamen die Pilger drei
Mahlzeiten, der Berichterstatter schnalzt noch zu Hause mit der Zunge, wenn er
begeistert aufzählt: „Beim ersten Essen gibt es Suppe und Fleisch, dazu
Weißbrot und Wein. Beim Abendessen Schwarzbrot und nur noch eine halbe Portion
Fleisch und Wein. Das Frühmahl war allerdings schon nicht mehr der Rede wert.“
Mit dem Frühstück ist es in Spanien so bis heute geblieben. Wir aber bleiben
nicht in der Stadt. Auch das ist eine Forderung des Weges: Loslassen, was uns
festhalten will.
Kathedrale
am Weg
Himmelstürmend
ragt
die
Kathedrale.
Ein
himmlisches Jerusalem
mitten
unter uns.
Portale,
Skulpturen, Kapitale,
Ornamente,
Linien.
Bilder
und Zeichen
verschlüsseln,
entschlüsseln
die
Sehnsucht nach mehr.
Torlose
Türen,
verschlossene
Öffnungen,
gekreuzte
Gänge,
Höfe
des Friedens,
der
Pilger muß weiter,
die
Sehnsucht im Herzen
nach
Jerusalem, nach mehr:
Santiago.
Dreißig
Tage sind wir bereits unterwegs. Eine merkwürdige Unruhe hat uns erfaßt.
Nirgends hält es uns lange fest; mögen die Bauwerke noch so schön, mag die
Geschichte noch so interessant sein, und die Menschen noch so freundlich, uns
zieht es zum Apostel. Noch nie in meinem Leben habe ich ein so intensives
Gefühl erlebt, noch nie eine solche Sehnsucht nach einem Ort, der nichts
anderes zu bieten hat als eine Legende. Aber eine Legende ist mehr als
Wirklichkeit, sie ist Wahrheit. Zu dieser wahren Erfahrung sind wir unterwegs.
Zugleich
fordert uns der Weg mehr und mehr heraus. Seit
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