Lautlos wandert der Schatten
diese Überlieferungen verkünden eine Wahrheit;
diesmal tun wir uns schwer, sie zu entschlüsseln. Die Santiagokirche zeigt ein
ebenfalls romanisches Portal mit einer eindrucksvollen Christusgestalt und den
Apostel im Fries, so hoch oben, daß uns der Nacken nach einiger Zeit schmerzt.
Auch das ist für uns neu in Carrión: Der gelbe Pfeil an den Bordsteinen der
Gehwege geleitet uns sicher durch die Stadt. Wir ziehen hinaus und für eine
Stunde oder mehr zieht ein Steinadler über uns seine Kreise bis Calzadilla de
la Cueza.
Der
Adler
Zieh
deine Kreise
über
uns still, ohne Flügelschlag.
Weit
reicht dein Blick.
Was
siehst du im Blau
deiner
Freiheit?
Wie
weit ist noch der Weg?
Zieh
deine Kreise über uns.
Wir
gehen, wie weit noch?
An
die Erde gebunden
schreiten
wir westwärts,
ultreya,
immer weiter,
den
Wind im Rücken,
geradeaus.
Und
kommen am Ende
doch
nur bei uns
selber
an.
Wieder
geht es über die Hochebene. Ein Jäger auf Schnepfenjagd begegnet uns. Mit
seiner Beute stellt er sich stolz unserem Foto. Wie die Italiener scheinen die
Spanier auf alles zu schießen, was sich auf den Feldern bewegt; überall treffen
wir auf warnende Schilder: „Privates Jagdgebiet“. Dann kreuzen zwei Schäfer
unseren Weg. Schon seit einer Stunde haben wir sie in der Ferne gesehen und
offensichtlich leiteten sie ihre Herde so, daß wir zusammentreffen müssen. Wir
nehmen uns Zeit für die beiden. Sie plaudern mit uns mehr mit Händen und Füßen
als mit Worten. Sie warnen uns vor betrügerischen Wirten, verdorbenem Wasser,
und empfehlen uns den Wein einer ganz bestimmten Bodega. Sie erzählen von
Pilgern, die vor uns auf den Weg sind und fragen uns aus, um nachfolgenden
berichten zu können. Wir reden miteinander und verstehen uns, weil wir gemeint
und doch nicht gemeint sind. Unser Weg führt geradeaus, ihr Pilgerweg kreuz und
quer durch die Eintönigkeit der Landschaft. Auch sie kommen an; vielleicht
schon vor uns.
Der
Schäfer
Schweigend
reden deine Augen
mit
mir
und
durch mich hindurch
mit
den Pilgern der Zeit.
Schweigend
deuten deine Gesten
mir
alles,
den
Weg und das Ziel
durch
mich hindurch
den
Pilgern der Zeit.
Eine
Handvoll am Tag
erfahren
deine Augen und Gesten:
Geht
nur euren Weg
und
sucht den Apostel.
Geht
euren Weg.
Ich
bin schon angekommen.
16
In allem Notwendigen Einheit,
im Zweifel Freiheit ,
über allem Liebe
W ieder
geht der Weg endlos die Nationalstraße entlang. Wir kommen zu einem recht
unscheinbaren Dorf, die meisten Häuser sind zerfallen, das den stolzen Namen
trägt: Terradillos de los Templarios. Es erinnert uns an den nach gemeinen Intrigen
aufgelösten Ritterorden, der ungeheuer viel zur Pflege des Wallfahrtsweges, zum
Schutz und zur Versorgung der Pilger geleistet hat. Die Templer, ihre
Ordenstracht war der weiße Mantel mit rotem Kreuz, wurden anfangs des 12.
Jahrhunderts in Jerusalem gegründet und hatten sich vor allem den Schutz der
Pilger vor sarazenischen Überfällen auf die Fahne geschrieben, erst im Heiligen
Land, daher ihr Name, und dann in Spanien.
Von
den Johannitern, die als Krankenpflegeorden ebenfalls in Jerusalem entstanden,
übernahmen die Templer die caritative Aufgabe. Dafür engagierten sich die
Johanniter, die späteren Malteser, im militärischen Schutz der Pilgerwege. Es
herrschte zwischen diesen religiösen Gemeinschaften ein reger Austausch und für
lange Zeit eine fruchtbare und brüderliche Konkurrenz. Nach dem Verlust des
Heiligen Landes suchten sich die Orden ihre Aufgaben in Europa, und hier wieder
vor allem in der Begleitung des Pilgerweges nach Santiago, der durch sie nur
noch an Bedeutung zunahm.
Zu
den Templern und Johannitern kamen mit dem weiteren Aufschwung der Wallfahrt
zum hl. Jakobus die Lazariten, die sich besonders der Leprakranken in eigenen
Pflegehäusern annahmen. Ihr Patron war der hl. Lazarus; der Ordensmantel zeigte
ein grünes Kreuz. Auch die Deutschordensritter, erkennbar am weißen Mantel mit
schwarzem Kreuz, betreuten Hospitäler am Weg. Schließlich wären noch die
Trinitarier zu nennen, die sich um die Freilassung und den Loskauf von Christen
kümmerten, die in die Hände der Muslime gefallen waren; notfalls waren sie
sogar bereit, sich persönlich gegen christliche Sklaven auszutauschen. Bleibt
noch der Santiago-Orden, der Ende des 12. Jahrhunderts entstanden ist. Sein
bedeutendstes Hospiz San Marcos ist heute noch in León als Parador, als
Fünf-Sterne-Hotel zu bewundern. Die
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