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Lautlos wandert der Schatten

Lautlos wandert der Schatten

Titel: Lautlos wandert der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roland Breitenbach
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Santiago konnte beginnen; halb Europa machte sich auf den
Sternenweg, die Stadt am damaligen Ende der Welt wurde zum Ziel und zur
Erfüllung von Millionen.
     
    Erst
im 16. Jahrhundert, mit dem Niedergang der Wallfahrt, verblaßte die Erinnerung
daran, daß in der Krypta der Kathedrale die Gebeine des Apostels ruhten. Das
Interesse an Jakobus war erloschen, seine Grabstätte mußte wegen Baufälligkeit
verschlossen werden und geriet immer mehr in Vergessenheit.
     
    Im
19. Jahrhundert machte sich Kardinal Payá y Rico daran, die Reliquien zu
suchen. Nach gezielten Grabungen fanden die Archäologen in der Nacht des 28.
Januar 1879 den Reliquienschrein. Ob dabei Karl der Große, dessen Gedenktag an
diesem Tag gefeiert wird, seine Hand im Spiele hatte? Jedenfalls ist sein Name
aufs Engste mit der Jakobuswallfahrt verbunden. Der Apostel selber war dem
späteren Kaiser bei dem Kampf gegen die Mauren zu Hilfe gekommen und hatte ihm
unter dem Bild einer großen Sternenstraße am Himmel den Weg auf Erden nach
Santiago gewiesen. Durch die Vision Karls wurde Jakobus zum Kampfmittel gegen
die Mauren. Offenbar half Karl der Große im 19. Jahrhundert mit, daß die
Wallfahrt wieder beginnen konnte.
     
    Papst
Leo XIII. ließ zwar 1884 die Gebeine für echt erklären, ernste Zweifel sind
aber nach wie vor gestattet. Eines aber ist sicher: Durch die zweite
„Auffindung“ der Überreste des Apostels Jakobus wurde die alte Wallfahrt neu
belebt. Seither reißt der Strom der Pilger aus Europa und der Welt, die den
Apostel der Spanier und des Abendlandes aufsuchen, ehren und „umarmen“ wollen,
wie es die Sitte vorschreibt, nicht mehr ab. Wer weiß, vielleicht trägt einst
die Fahne eines Vereinten Europas sein Bild, statt der goldenen Sterne auf
blauem Grund, obwohl auch diese Sterne unbewußt ein Zeichen dieses europäischen
Weges sind.

 
     
    Der
wahre Jakob
     
    Das
ist der wahre Jakob nicht:
    ein
Märchen, eine Legende,
    eine
Überlieferung, ein Wunder.
    Das
ist der wahre Jakob nicht:
    ein
Diplomat, ein Leisetreter,
    ein
Vermittler, ein Ausgleichsbeamter.
    Das
ist der wahre Jakob nicht.
    Unter
den Aposteln Jesu
    der
erste ein Fels, Simon Petrus.
    Der
zweite die Unruhe selbst,
    Jakobus,
der Donnersohn.
    Beide
brauchen wir heute
    in
der Kirche nötiger denn je:
    den
Felsenmann und den Unruhestifter,
    festen
Halt und Fortschritt.
    Das
brauchen wir.
    Das
ist der wahre Jakob.

Am
Festtag des Apostels, am 25. Juli, brachen wir in Le Puy auf. Der Gottesdienst
in der Kathedrale, hoch oben über der Stadt auf einem Basaltkegel, war eine
einzige Enttäuschung. Der ältliche Domherr würdigte uns Pilger, die zusammen
mit zwei Frauen den Gottesdienst mitfeierten, keines Blickes. Unbeweglich stand
der Monsignore am Altar; weder beim Evangelium noch bei der Wandlung wandte er
sich uns zu, übersah uns geflissentlich bei der Kommunion. Wir waren nicht
einmal für einen Segen gut. Nach knapp zwanzig Minuten war die ganze Zeremonie
vorbei. Also überließen wir uns ganz einfach dem Weg und dem Apostel. Obwohl
wir Bücher und Karten studiert, Pilger und Freunde befragt hatten, wußten wir
nicht, was da auf uns zukam. Wir überließen uns der Landschaft und den vielen
Menschen am Weg. Das war gut so. Die Freiheit und Offenheit für jeden und alles
bescherten uns viele Überraschungen. Wir kannten keine vorgefaßten Urteile, wir
hatten keine Erwartungen und keine Pläne, außer dem einen: zu gehen und
anzukommen. Der erste Schritt ist wie eine unwiderrufliche Entscheidung. In ihm
liegt der ganze Weg. Wir wagen diesen ersten Schritt in den Morgen hinein, dem
viele, ungezählte Schritte folgen werden.
     
    Während
wir noch ein wenig beklommen und schüchtern die erwachende Stadt betrachteten,
die mit dunklem Basalt gepflasterten Straßen glänzten vom leichten nächtlichen
Regen, zupfte mich ein junger Franzose am Ärmel: „Ihr wollt nach Santiago? Ich
zeige euch den Weg!“ Eintausendfünfhundert Kilometer von Santiago entfernt,
kennt einer schon unser Ziel und geleitet uns auf den rechten Weg. Er wies uns
über die Kapuzinerstraße, vorbei am ehemaligen Pilgerhospiz zur Rue de
Compostelle und dann steil hinauf auf die Höhe über der Stadt. Zum ersten Male
hören wir hier auch die Bitte, nicht nur von diesem jungen Mann, sondern auch
aus einer Kneipe: „Priez pour moi á Compostelle!“ - „Betet für mich beim
Apostel!“ Noch oft wird diese Bitte unterwegs ausgesprochen. Auf Feldern, in
Bars und Restaurants, auf der Straße und dort, wo wir

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