Lautlos wandert der Schatten
Pilgerbuch sind mit großer Sorgfalt die einzelnen Etappen und
Stationen des Weges zum heiligen Jakobus aufgelistet. Wir halten uns nicht
immer an diesen Codex Calixtinus aus dem Jahr 1139. Wir gehen einfach; rasten,
wo es uns Spaß macht, und übernachten, wo sich uns eine Möglichkeit anbietet:
in einem Hotel, in einem Kloster oder Refugio, in einem Gasthof oder bei
Privatleuten. So machten es auch viele Pilger damals. Wie ihnen, blieb es auch
uns nicht erspart, gelegentlich im Freien zu schlafen.
Mit
jedem Schritt, den wir gehen, wird uns die Natur vertrauter. Mit jedem Tag unterwegs,
vor allem aber in den Nächten, die wir im Tausend-Sterne-Hotel unter einem Baum
oder am Rand einer schützenden Hecke im Freien verbringen, eingehüllt in den
Schlafsack wie die Pilger vergangener Zeiten in ihren weiten Mantel, fühlen wir
uns mehr und mehr als ein Teil von ihr. Die Hitze des Tages, die empfindliche
Kühle der Nacht, wir gehören bald einfach zu Tag und Nacht dazu, wie die Käfer
und Blumen am Weg.
Übernacht
Feuchte
Kühle des Morgens,
vorbei
ist die Nacht.
Nebelschwaden
ziehen,
des
Pilgers Leichentuch
durchdringt
die Sonne
zu
neuem Leben,
steigt
auf
über
dem Rücken der Pferde
auf
der nahen Koppel.
Endlich
Tag.
Ultreya.
Weiter.
Wir
gehen unseren Weg und weichen dem Gelbrandkäfer aus, versuchen die
Ameisenstraße nicht durch einen unbedachten Schritt zu stören, verfolgen an der
Spur der Weinbergschnecke den Weg, den sie seit dem frühen Morgen schon
zurückgelegt hat. Alles ist unterwegs. Dann kämpfen wir gegen tückische
Brombeerhecken an, die unseren Pfad überwuchert haben und uns festhalten
wollen; schließlich müssen wir uns wieder und wieder durch Mais- und
Sonnenblumenfelder, die kein Ende nehmen wollen, hindurcharbeiten. Wir sind
dann immer froh, wenn wir am anderen Ende des Ackers die Markierung
wiedergefunden haben.
Der
Sentier de Saint-Jacques bringt uns in den Bergen um Aubrac auf über 1000
Höhenmeter hinauf. Die Landschaft nimmt heimatliche Züge an. Wir werden an die
Rhön mit ihren weiten Hochflächen und kegeligen Kuppen erinnert. Ein wenig
Heimweh vielleicht? Buchen, Haselnüsse und Eßkastanien versprechen eine gute
Ernte. Für den Pilger damals war das kein gutes Zeichen. Er erkannte an dem
Reichtum der Bäume, daß ein harter Winter bevorstand und er mußte seinen
Rückweg sorgfältig planen, notfalls in Spanien überwintern. Andererseits war
schon der Gedanke an heiße Maronen und einen Krug Rotwein am flackernden Feuer
des offenen Kamins einer Herberge auch recht verlockend. Wir konnten uns
inzwischen die Leiden und die Freuden der Wallfahrer von einst gut vorstellen.
Die Füße brannten, der Rücken schmerzte, das Herz wurde einsam; da war es gut,
am Abend eine gastliche Aufnahme zu finden.
Inzwischen
dienen uns die hohen Kerzen des Gelben Enzian als Wegzeichen, der Feldthymian
duftet schwer in der Glut der Sonne, die Wacholderbeeren reifen, Himbeeren und
Brombeeren schmecken uns bereits. Die Pilger waren auf Beeren, vor allem auf
heilsame Pflanzen und Kräuter angewiesen. In den Klöstern und Hospitälern
verstanden sich Mönche und Ordensfrauen auf die Anwendung der Naturheilmittel
und gaben Wissen und Hilfe an die Wanderer um Gotteslohn weiter und mit der
Bitte: „Wenn ihr einst nach Santiago kommt, dann umarmt für mich den Apostel!“
Heilkräuter
am Weg
Thymian
für Husten und Hals,
hilft
bösem Magen ebenfalls.
Wacholderbeer’
und Kümmelgeist
treibt
aus den Harn und hilft zumeist,
wenn
der Appetit sollt’ besser werden.
Schlaflosigkeit
und Gemütsbeschwerden?
Baldrian
wird sie vertreiben,
wie
Knoblauch alle Blutdruckleiden.
Johannis-
und das Seifenkraut
gut
gegen faule Wunden, offne Haut.
Wegwarte
und Bitterklee
heilen
schnell und lindern Weh...
Auf
dem Pilgerweg, der viele Monate, manchmal Jahre dauern konnte, war die
ärztliche Versorgung noch recht unvollkommen. Nur Reiche konnten es sich
leisten, den Pilgerweg beritten und mit größerem Gefolge hinter sich zu
bringen. Die Masse der Wallfahrer ging zu Fuß. So entstand ab dem 12.
Jahrhundert ein Netz von Hospitälern mit fachkundigen Mönchen und Nonnen oder
Laienmitarbeitern der Orden, die sich um die Wallfahrt kümmerten. Vielerorts
war für das leibliche Wohl und für das Seelenheil gleichermaßen gesorgt. Aber
meistens waren die Pilger auf sich selbst und auf die Hilfe von Freunden oder
zufälligen Begleitern angewiesen. Da konnte die Kenntnis der
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