Lautlos wandert der Schatten
der heiligen Stadt
verstehen, wenn sie vom zeitigen Frühjahr bis zum Spätherbst auf den Beinen
waren.
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Aus der Begegnung
mit Menschen
erfahren wir erst, wer wir sind
F rüher
waren es vor allem Deutsche und Ungarn, die wie wir, von Le Puy aus den Weg
nach Santiago antraten. Zu diesem Sammelpunkt der Pilger hatte uns die
Eisenbahn gebracht; der Wallfahrer früher war dorthin schon wochenlang
unterwegs. Bis zum nächsten wichtigen Punkt, zur Abtei Conques, sind es gut
sechs Tagesreisen, rund 200 Kilometer. Wir treffen auf diesem bekanntesten
Wegstück in Frankreich Menschen aus vielen Nationen: So den Schweizer Heini,
der nach Amerika ausgewandert war und mit seiner indianischen Frau Elimar
(,Stiller Donner´) unterwegs ist; „keinesfalls aus religiösen Gründen“, wie er
beteuert. Da ist der Holländer Toine, der sein Psychologiestudium beendet hat
und vor seiner beruflichen Karriere Erfahrungen neuer Art sammeln möchte. Da
ist Jan aus Brüssel, der wegen seines mitgeführten Handkarrens nur auf Straßen
und ausgebauten Wegen vorankommt; täglich schickt er einen Pilgerbericht nach
Hause, der im Gottesdienst der Pfarrgemeinde vorgelesen wird, so daß viele an
seinen Erlebnissen teilhaben können. Wir lernen den Lebenskünstler Hanspeter
kennen, der vor Monaten in Zürich aufgebrochen ist und Land und Leute in
wunderschönen Skizzen festhält. Schließlich die Studentin Valerie aus der
Bretagne, die sonntags nicht weiterzieht, sondern den Tag des Herrn meditiert
und feiert.
Wir
pilgern Tag für Tag weiter, als hätten wir etwas zu verlieren oder zu gewinnen;
wer weiß das schon so am Anfang der Pilgerfahrt. Auch der Sonntag kann uns
nicht aufhalten. Wir verschnaufen höchstens in einer Kapelle, atmen kurz in
einer Kirche durch, werden ruhig im stillen Seitenschiff einer Kathedrale, und
stehen oft vor verschlossenen Türen. Dann nehmen wir uns die Freiheit, unsere
Brotzeit zu Füßen eines romanischen Portals einzunehmen und nach Landfahrerart
den Rotwein aus der Flasche dazu zu trinken.
Die
vorgeschriebene Route führt zum Hospiz von Aubrac, weiter nach St.Chely, St.
Come d’Olt, Espalion und über Estaing nach Conques.
Den
alten Pilgerbeschreibungen nach war das früher eine einsame, schreckliche und
gefährliche Gegend, eine „Steppe in der Wüste, wo wildes Getier heult“ (Deut
32,10). Die Pilger hielten es gern mit kräftigen Sätzen aus der Heiligen
Schrift; vielleicht bekämpften sie mit den Bibelworten auch ihre Ängste und
Befürchtungen, die nicht unbegründet waren: Es gab Räuber, die es auf die
Barschaft und das Leben der Pilger abgesehen hatten; Beutelschneider, die sich
an Schlafende heranschlichen, das Leder aufschlitzten und die Geldstücke
herausholten. Wer allein reiste, tat gut daran, sich bei einem solchen
Diebstahl schlafend zu stellen, wenn er mit dem Geld nicht auch sein Leben
verlieren wollte. Glücklich also, wer am Abend Zuflucht im Hospiz oder in einer
ummauerten Unterkunft gefunden hatte. Es war gut, in kleinen Gruppen zu
pilgern, um gemeinsam gegen die „Muschelräuber“, aber auch gegen wilde Tiere
vorzugehen. Auch wir hatten nichts dagegen einzuwenden, wenn sich uns am Abend
eine bequeme Herberge öffnete. Es war irgendwie spannend, in den Tag zu gehen,
ohne zu wissen, wo wir am Abend Unterkommen würden. Der Apostel richtete es
schon ein.
Heute
gehört die Strecke von Le Puy bis zur Abtei Conques zu den reizvollsten
Abschnitten des Jakobusweges auf französischem Boden; es ist schon fast ein
Sport geworden, wenigstens diese eine Etappe des Grande Randonnée Nr. 65 zu
machen. Entsprechend häufig treffen wir Wanderer, die uns Pilger bestaunen,
weil wir den ganzen Weg vor uns haben. Andere teilen sich den Weg in Abschnitte
ein, die sie, über Jahre verteilt, hinter sich bringen wollen, so zwei Familien
aus Straßburg, die mit ihren vier Kindern unterwegs sind. Im Heiligen Jahr 1993
wollen sie in Santiago ankommen. Abbrechen und wiederanfangen, das kommt für
uns nicht in Frage. Wir übernachten nicht einmal in Conques, sondern nehmen uns
für diesen Tag noch viel vor.
Heilige
müssen sich selbst nach ihrem Tod noch auf den Weg machen. Die Jungfrau und
Märtyrerin Fides, die in Conques große Verehrung genießt, kam durch einen
listigen Diebstahl in den Besitz der Abtei. Es gehört zur Pflichtaufgabe eines
jeden Pilgers, ihr Grab in der herrlichen Basilika zu besuchen. Wir steigen auf
einem schmalen Pfad hinunter in das Tal des Dourdou. Durch schmale
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