Lautlos
um den Sitz seiner Garderobe.
»Wie es aussieht, hast du das.«
»Und daraus folgt?«
Er zögerte.
»Ich weiß nicht, was daraus folgt. Ich weiß nur, dass ich heute Nachmittag nicht arbeiten musste.«
»Was?«
»Ich musste nicht arbeiten. Es wird das erste und das letzte Mal sein, ich schwöre tausend heilige Eide, aber ich habe dich belogen. Ich hatte nichts zu tun heute Nachmittag. Nicht das mindeste bisschen.«
Allmählich begriff sie.
»Und … warum hast du dennoch …?«
»Ich hatte Angst.«
»Angst?«
»Ich hatte Angst, dich an den falschen Moment zu verlieren. Dieselbe Angst wie du, schätze ich.«
Sie wandte den Blick ab, sah ihm wieder in die Augen, schaute erneut zur Seite. Oh Gott, dachte sie. Oh mein Gott, das darf nicht passieren! Was sollen wir denn machen? Ich kann mich nicht in dich verlieben, Liam O'Connor, du verrückter Säufer, du Ausgeburt einer nihilistischen Phantasie, ich bin so glücklich und möchte es bleiben, bitte hilf mir, lass mich nicht allein, halt mich, lass mich gehen!
Zu spät.
Also gut, dann soll es eben geschehen.
Es geschieht.
Es ist geschehen.
»Schlaf mit mir«, sagte sie.
Was lebten sie bloß für ein Leben? Wie der wahnsinnige Sweeny flatterten sie von Thema zu Thema, packten verliebte Nachmittage und Flüchtlingselend in denselben Wortschatz unter dem Protektorat einer alten Eiche, schufen sich einen Kokon gegen die Welt, so wie sich alle in den vergangenen Wochen ihren höchstpersönlichen Kokon geschaffen hatten, und statt Kanonendonner gab es das vertraute Wispern des Windes in den Ästen und statt niederbrennender Häuser die Hitze ihrer Körper.
O'Connors Hände umfassten ihre Taille. Rittlings setzte sie sich auf ihn und erbebte.
In dieser Nacht sagte sie ihm nicht, dass sie ihn liebte. Und er sagte nichts Ähnliches zu ihr.
JANA
Karina Potschowa. Teresa Baldi. Laura Firidolfi.
Ein rundes Dutzend unterschiedlicher Persönlichkeiten bevölkerten das dunkle Zimmer mit den eleganten Möbeln im Hoppers, einem stilvollen Hotel in der Kölner Innenstadt. Eine geisterhafte Gesellschaft unter dem Vorsitz einer Unperson namens Jana, die angezogen auf ihrem Bett lag, die Augen geöffnet und in Nachdenklichkeit erstarrt.
Einzig Sonja Cośic fehlte.
In letzter Zeit fehlte sie immer häufiger. Es war gut so. Ihre Anwesenheit brachte nichts als Probleme mit sich. Jedes Mal, wenn Sonja sich hinzugesellte, erinnerte sie Jana daran, nur eine Erfindung zu sein, ein bloßes Geschöpf, zusammengefügt aus Illusionen und Notwendigkeiten. Seit dem Tage, da Jana den Auftrag angenommen hatte, hielt sie ihr vor, sich selbständig gemacht und den Grund für ihre Erschaffung vergessen zu haben, bezichtigte Jana des Verrats und machte sie verantwortlich für die Eskalation allen Elends in der Welt. Ganz allgemein erwies sie sich als hinderlich, wenn es darum ging, Geschäfte zu machen.
Jahrelang war es anders gewesen. Die Kreatur hatte es verstanden, im Einvernehmen mit ihrer Schöpferin zu leben. Einem Golem gleich hatte Jana eine Menge Drecksarbeit erledigt, um Sonja einen finanziellen Unterbau zu schaffen. Sie hatten sich gut ergänzt. Sonja konnte Wut und Trauer empfinden, Hass und Liebe. Jana verspürte weder von dem einen noch vom anderen sonderlich viel. Sie schätzte Professionalität und Präzision. Im Laufe der Jahre hatte sie ein paar Menschen das Leben geraubt, um Sonja geben zu können, was sie brauchte. Geld für den Aufbau einer eigenen Miliz im Einvernehmen mit dem großen Präsidenten, der das zersplitterte Erbe vereinen und jedem seinen Platz zuweisen würde. Eine starke, aber gerechte Truppe hatte sie aufbauen wollen, die Gewalt nur einsetzte, wo sie sich legitimierte, ohne die Dumpfheit der Schlächterbanden um Arkan und Dugi.
Es war das perfekte Abkommen.
Aber mit jedem Schuss, den Jana ins Ziel lenkte, wurde Sonja nur umso zögerlicher. Ihre Kraft schwand, ihre Sicherheit wich nagenden Zweifeln. Schließlich hatte sie sich in ein Kind zurückverwandelt, wie alle Kinder die verkörperte Hoffnung, dass aus kleinen Menschen keine schlechten Menschen werden können, und für die erwachsene Sonja Lebensjahre zurückgefordert. Vor sechs Monaten noch hatte die Stimme der Frau mit den vielen Persönlichkeiten zu Silvio Ricardo gesagt: »Sonja Cośic steht gerade mit erhobener Faust auf einem Hügel in der Krajina, und alles in ihr schreit danach, dem Ruf zu folgen. Wir können uns nicht länger zu Randfiguren und Irrtümern der Geschichte degradieren
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