Lavendel gegen Ameisen
Wertsystems unentbehrlich für das ordnungsgemäße Funktionieren des Einzelnen wie der Gesellschaft. Ohne entsprechende Normen wird es uns nie gelingen, eine harmonische Einheit zu schaffen und diejenigen Elemente, die man – natürlich in einem erweiterten und nicht nur moralischen Sinne – als das Gute und das Böse bezeichnet, in das erforderliche Gleichgewicht zu bringen.»
Damit zog er das Mädchen an sich und wollte es küssen, aber das Mädchen wandte das Gesicht ab.
«Stopp!», rief der Lehrer wieder. «Gesprochen war das jetzt prima, Stefan, aber du sollst die Ala an dich reißen, wild küssen, unkontrolliert. Das muss viel heftiger kommen. Und du auch, Katja, reiß dich los, ‹wild› heißt es hier.»
Stefan grinste schief.
«Der bringt’s doch nicht», rief einer der Jugendlichen in der ersten Reihe. «Am besten, Sie machen ihm mal vor, wie es richtig geht, Herr Dr. Hermans.»
Alle lachten. Das Mädchen auf der Bühne warf dem Lehrer einen Blick zu und errötete, lachte dann aber mit.
«Nun beruhigt euch mal wieder.» Dr. Hermans klatschte in die Hände. «Also noch einmal, ihr beiden.»
Diesmal lief die Szene schon besser.
«Okay, das reicht erst mal», entschied der Lehrer und sprang in den Zuschauerraum hinunter. Dabei entdeckte er Toppe, runzelte die Stirn und warf ihm einen fragenden Block zu.
Toppe nickte grüßend. Alle hatten sich jetzt zu ihm umgedreht.
«Ach, Herr Toppe», rief Sabine. Sie strahlte und kam zu ihm geeilt. «Sie sind tatsächlich gekommen. Das finde ich total schön.» Sie drückte ihm die Hand. «Kommen Sie doch mit nach vorn.» Sie schob ihn vor sich her.
Toppe fühlte sich unwohl in seiner Haut und lächelte einfältig.
«Das ist Kommissar Toppe, der den Tod meines Vaters untersucht», erklärte Sabine leichthin.
Dr. Hermans kam auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen. «Hermans», sagte er. «Sie interessieren sich fürs Schülertheater?»
«Ja, sehr. Ich habe früher selbst mal gespielt.»
Es entstand eine dumme, kleine Pause. Alle standen um ihn herum.
«Interessantes Stück», sagte Toppe schließlich. «Hätten Sie ein Textexemplar übrig? Ich würde es gern einmal lesen.»
Hermans sah ihn erstaunt an und schüttelte den Kopf. «Nein, leider nicht.»
«Sie können meines haben.» Sabine hielt ihm ihr Textbuch hin. «Ich kann es mir bei Katja kopieren.»
«Danke.» Toppe lächelte sie an.
«Hoffentlich steigen Sie da durch», meinte Stefan. «Dr. Hermans hat überall seine Randbemerkungen reingemalt.»
«Das kenne ich», antwortete Toppe und blätterte, wirklich viele Regieanweisungen.
«Ich schaue noch ein Weilchen zu, wenn es Ihnen recht ist.»
«Gern», erwiderte Hermans. «Dann lasst uns im zweiten Akt weitermachen. Edek kommt dazu. Komm, Christoph, beweg dich mal hoch.»
Toppe fröstelte, als er zu seinem Platz zurückging, es war kühl in der Aula.
Breitenegger hatte eine Stinklaune, als Toppe endlich ins Büro kam.
«Ich habe den ganzen Morgen diesen Aktenwust aufgearbeitet.»
«Und wo steckt Ackermann?»
«In irgendeinem Krankenhaus, nehme ich an.» Breitenegger stand auf und packte seine Pfeifenutensilien zusammen. «Mir brummt der Schädel. Ich mache mal eine Weile Rufbereitschaft von zu Hause aus. Sobald ich wieder fit bin, nehme ich mir dieses Fotoalbum vor.»
«Ist in Ordnung», erwiderte Toppe. «Wir sehen uns später.»
Breitenegger schlurfte hinaus.
Toppe zündete sich eine Zigarette an, nahm das Textbuch aus der Jackentasche – «Tango». Schauspiel in drei Akten von Stawomir Mrozek –, legte die Füße auf den Schreibtisch und fing an zu lesen. Eigenartigerweise hatte er überhaupt kein schlechtes Gewissen dabei.
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Fünfzehn
Toppe hatte sich in der Kantine zwei Mettbrötchen und eine Cola besorgt.
Jetzt saß er da, blätterte in Landmanns Fotoalbum und rupfte seinen Bart. Merkwürdig, er hatte das Gefühl, dieses Gesicht auf dem Foto von einem Maiausflug schon einmal gesehen zu haben.
«Tach.» Van Appeldorn kam herein.
«Grüß dich», antwortete Toppe. «Was war mit Suerick?»
«Nichts, hat alles seine Ordnung mit seinem Adimed-1-Schuh.»
Auch van Appeldorn war nicht gerade glänzender Laune. «Wir hängen fest.»
«Das sehe ich nicht so», entgegnete Toppe. «Immerhin haben wir die beiden Abdrücke von einem Adimed 2 in Größe 42 und von einer durchgehenden Gummisohle, Größe 44.»
«Und was hilft uns das?», gab van Appeldorn mürrisch zurück. «Komm, lass uns mit
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