Lea
den Kasten gefallen war, da strebte Loyola mit ihrem Begleiter schon der Rolltreppe zu. Jetzt, wo sie nicht mehr auf einem Podest stand, wirkte sie klein, die magische Geigerin, und nicht nur klein, sondern entzaubert, fast ein bißchen schäbig. Sie zog das eine Bein nach, und ich schämte mich meiner Enttäuschung darüber, daß sie wirklich und unvollkommen war, statt sich mit demselben Glanz und derselben märchenhaften Perfektion durch die Welt zu bewegen, die ihrem Spiel angehaftet hatten. Ich war froh und unglücklich zugleich, als die nach oben gleitenden Treppenstufen sie aus unserem Gesichtsfeld hinaustrugen.
Ich trat zu Lea und zog sie sanft an mich, es war die gleiche Bewegung wie immer, wenn es galt, sie zu trösten und zu beschützen. Sie pflegte dann die Wange an meine Hüfte zu schmiegen, und wenn es besonders schlimm war, versuchte sie, ihr Gesicht in mir zu vergraben. Jetzt jedoch kam es anders, und wenn es auch nur um eine kleine Bewegung, eine bloße Nuance des Reagierens ging, die kein Außenstehender hätte bemerken können, so veränderte sie doch die Welt. Langsam kehrte Lea unter dem sanften Druck meiner Hand in die Wirklichkeit zurück. Im ersten Moment überließ sie sich, wie sonst, meiner beschützenden Bewegung. Doch dann, einen winzigen Augenblick, bevor die Wange wie üblich mein Bein berührt hätte, hielt sie abrupt inne und begann, sich gegen meinen Druck zu sträuben.
Ich spürte, und es traf mich wie ein elektrischer Schlag: Während ihrer Versunkenheit hatte sich ein neuer Wille gebildet, und es war eine neue Selbständigkeit entstanden, von der sie noch nichts wußte.
Erschrocken zog ich meine Hand zurück, ängstlich abwartend, was nun geschehen würde. Lea hatte mich seit ihrem Erwachen noch nicht angeblickt. Als sich unsere Blicke jetzt trafen, war es für einen Augenblick, den ich mit übergroßer Wachheit erlebte, wie die Begegnung zwischen zwei Erwachsenen mit ebenbürtigem Willen. Da stand nicht mehr eine kleine, schutzbedürftige Tochter ihrem großen, beschützenden Vater gegenüber, sondern eine junge Frau, die von einem Willen und einer Zukunft ausgefüllt wurde, für die sie unbedingten Respekt forderte.
In jenem Augenblick spürte ich, daß zwischen uns eine neue Zeitrechnung begann.
Doch so neu und deutlich diese Empfindung auch war – verstanden habe ich sie offenbar weder damals noch später. C’est de votre fille qu’il s’agit. Was können diese schrecklichen Worte des Maghrebiners anderes bedeuten als den Vorwurf, es sei mir in den dreizehn Jahren seit Loyolas Auftritt im Bahnhof von Bern nie wirklich um Lea gegangen, sondern immer nur um mich selbst? In den ersten Tagen und Wochen weigerte ich mich mit Ingrimm und Verbitterung, diesen Vorwurf auch nur einen Moment lang ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Aber die Worte des Arztes kreisten und kreisten, sie vergifteten das Einschlafen und das Aufwachen, bis ich des Widerstands müde wurde und mit der ganzen Nüchternheit meines Verstandes versuchte, mir ganz von außen, wie einem Fremden gegenüberzutreten. War ich vielleicht wirklich unfähig gewesen anzuerkennen, daß Lea einen eigenen Willen hatte, der auch ein anderer Wille sein konnte als derjenige, den ich mir für sie erträumte?
Ich bin nie selbst auf den Gedanken gekommen, daß ich in einer derart verheerenden Unfähigkeit befangen sein könnte; denn wenn sie mich beherrscht haben sollte, dann durch eine tückische Unauffälligkeit und trügerische Wandelbarkeit, die sie dem erkennenden Blick entzog und hinter einer täuschenden Fassade der Fürsorglichkeit verbarg. Für den Betrachter nämlich sah es keineswegs aus, als nähme ich keine Rücksicht darauf, was Lea sich wünschte. Ganz im Gegenteil: Von außen betrachtet muß es so ausgesehen haben, als würde ich von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr mehr zum Diener, ja Sklaven ihrer Wünsche. Der eine oder andere Blick meiner Kollegen und Mitarbeiter ließ mich wissen, daß sie das Ausmaß bedenklich fanden, in dem ich mir von Leas Lebensrhythmus, von ihren künstlerischen Fortschritten und Rückfällen, ihren Höhenflügen und Abstürzen, ihrer Euphorie und Niedergeschlagenheit, ihren Launen und Krankheiten die Form meines Lebens diktieren ließ. Und wie könnte man einem Vater, der um des Glücks seiner Tochter willen sogar auf die schiefe Bahn gerät, die Fähigkeit absprechen, ihren Willen anzuerkennen? Willig fügte ich mich der Tyrannei ihrer Begabung. Wie also konnte der Maghrebiner
Weitere Kostenlose Bücher