Lea
ich sie am liebsten nicht mehr losgelassen, so sehr gefiel es mir, die Kraft ihres Händedrucks zu spüren.
Denn das war es, was Marie Pasteur auch sonst ausstrahlte und was mir an diesem ersten Abend ihr ganzes Wesen auszumachen schien: eine enorme Kraft ohne die Spur von Gewalt. Auch in ihren Augen konnte man sie erkennen, diese Kraft, als sie den Blick nun auf Lea richtete, die Lippen in einem flüchtigen Akt spielerischer Ironie einen Augenblick lang zu einem Lächeln büschelte, um dann eine Frage von verblüffender Einfachheit zu stellen: ›Und warum glaubst du, daß die Geige das richtige Instrument für dich ist?‹
Das war Marie. Die Frau, die stets Klarheit suchte. Nicht die Art Klarheit, wie ich sie aus der Wissenschaft kannte, und auch nicht die Klarheit des Schachs. Eine Klarheit, die sich schwerer fassen ließ und die mir in ihrer Ungreifbarkeit unheimlich war. Was sie wissen wollte, war, warum die Leute taten, was sie taten. Will das nicht jeder wissen? Ja, aber Marie wollte genau wissen, warum sie es taten. Und wie es ihnen dabei erging. Wie genau es ihnen dabei erging. Bei sich selbst wollte sie es nicht weniger genau wissen als bei den anderen; sie war hartnäckig und unnachgiebig, wenn es darum ging, sich selbst zu verstehen. Und so lernte ich eine Leidenschaft des Verstehens kennen, die am Anfang alles – selbst das Vertrauteste – reizvoller und reicher erscheinen ließ, um mich schließlich in eine Dunkelheit des Unverständnisses zu stürzen, die ich ohne Maries Vorstellung von Klarheit nie kennengelernt hätte.
Lea zögerte keinen Moment mit der Antwort auf Maries Frage. ›Ich spüre es‹, sagte sie einfach, und es lag etwas Endgültiges in den wenigen Worten, die sie mit der Selbstverständlichkeit eines Atemzugs aussprach.
›Du spürst es‹, wiederholte Marie zögernd, rutschte auf der Sessellehne nach vorn und verschränkte die Hände im Schoß. Eine Locke aus der aschblonden Mähne fiel ihr in die Stirn. Sie sah hinunter auf das glänzende Parkett. Ihre Lippen bewegten sich, als wolle sie den Lippenstift neu verteilen. Ich hatte damals den Eindruck, sie wisse nicht, wie das Gespräch fortzusetzen sei. Später erfuhr ich, daß es ganz anders gewesen war: Die Bestimmtheit in Leas Antwort hatte Marie blitzschnell zu dem Entschluß gebracht, sie als Schülerin anzunehmen. ›Ich wußte, daß es richtig war; aber ich brauchte einige Augenblicke, um mich darauf einzustellen. Es würde etwas Großes und Schwieriges werden, das spürte ich. Und es sollte eine Entscheidung sein, die ich mit besonderer Wachheit traf. Ich hätte sie lieber nicht am Ende eines langen Tages gefällt, sondern morgens.‹ Sie lächelte. ›So gegen halb elf vielleicht.‹
›Spielst du mir etwas vor?‹ fragte Lea in die Stille hinein. Ich vergaß zu atmen. Zwar war sie noch in einem Alter, in dem Kinder alle duzen. Aber bei Lea war es anders. Sie hatte den Unterschied zwischen du und Sie sehr früh gelernt, sie machte damit Furore und genoß es. Wenn sie über Cécile oder mich erzürnt war, redete sie uns mit vous an, und dann klang es wie in der französischen Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts. Wenn sie einen Hund ausnahmsweise nicht mochte, sagte sie Sie zu ihm, und dann gab es im Bus schallendes Gelächter. Es war also nicht Zufall, Achtlosigkeit oder kindliche Gewohnheit, daß Lea Marie geduzt hatte.
Doch mehr noch als das Duzen alarmierte mich die Frage selbst. Sie klang ja, als sei Lea die Lehrerin, bei der Marie eine Prüfung zu bestehen hatte. Natürlich, es konnte einfach eine ungeschickte Wortwahl sein und mangelndes Gespür für die Nuance. Aber meine Anspannung, die wuchs und wuchs und die meinen Empfindungen für Marie nicht weniger galt als denjenigen für Lea, machte mich, wie sich zeigen sollte, hellsichtig. Sie ließ mich an Lea etwas erahnen, das in den kommenden Jahren immer deutlicher hervortreten sollte, ohne daß ich je das treffende Wort dafür gefunden hätte. Es war nicht Arroganz, dafür fehlte das Herrische. Auch Überheblichkeit war es nicht, oder Hochnäsigkeit, dazu trat Lea zu unscheinbar auf. Vielleicht könnte man sagen, daß ein ungeheurer, beinahe sinnlich erfahrbarer Anspruch von ihr ausging, ein Anspruch, den sie vor allem an sich selbst richtete, der aber auch einen Schatten auf die anderen warf, die klein wurden, wenn er auf sie fiel.
Vor allem galt dieser Anspruch dem Geigenspiel, der heiligen Messe der gestrichenen Töne, die sie zu zelebrieren verstand wie
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