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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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ausgebeulten Kordhosen und dem ungekämmten roten Haar, war schon auf dem Weg nach oben, als mir klar wurde, was ich in Händen hielt. Es waren zwei Biographien, eine über Louis Pasteur und eine über Marie Curie.
    Es sollten die wichtigsten Bücher meines Lebens werden. Ich verschlang sie, las sie wieder und wieder. In der Oberprima fehlte ich keine einzige Stunde mehr, und meine naturwissenschaftlichen Klausuren waren fehlerlos. Lüthi hatte ins Schwarze getroffen.
    Ich habe nie die Worte gefunden ihm zu sagen, was er für mich getan hatte. Dafür bin ich nicht begabt.
    Und nun gingen wir also zu einer Frau, die Marie Pasteur hieß. Ich war aufgeregt wie beim ersten Rendez-vous, als ich klingelte, die Tür aufsprang und wir auf einem roten Läufer zwei Stockwerke hinaufstiegen.
    Die Frau, die uns auf dem Treppenabsatz erwartete, trug eine geblümte Küchenschürze, hatte einen Kochlöffel in der Hand und sah uns mit hochgezogenen Augenbrauen entgegen. Ich bin nicht leicht einzuschüchtern, aber Marie schaffte es, damals wie auch später. Und schon damals fand ich dagegen nur ein einziges Mittel: Ich fiel mit der Tür ins Haus.
    ›Meine Tochter hier‹, sagte ich noch auf der Treppe, ›möchte bei Ihnen Geigenunterricht nehmen.‹
    ›Du hast mich gar nicht gefragt‹, sagte Lea später. Und Marie meinte, ich hätte es in einem Ton gesagt, als müsse sie diesem Wunsch entsprechen; als habe sie nicht die Wahl, Lea abzulehnen.
    Sie war nicht erbaut über den unerwarteten Besuch. Nur zögernd ließ sie uns eintreten, führte uns ins Musikzimmer und verschwand dann für eine Weile in der Küche. An der Art, wie Leas Blick den hohen, weiten Raum langsam, fast methodisch abtastete, konnte ich erkennen, daß es ihr hier gefiel. Dafür sprach auch, daß sie mit der Hand liebkosend über die vielen Sofakissen aus glattem, glänzendem Chintz fuhr. Als sie dann aufstand und zu dem Flügel in der Ecke ging, war ich sicher, daß sie nachher nicht wieder wortlos verschwinden würde.
    Es war kein Wunder, daß ihr der Raum gefiel. Sparsam, aber mit erlesenem Geschmack möbliert, war er ein Ort der Stille. Auf unerklärliche Weise verloren die Geräusche der Straße ihre Macht und Aufdringlichkeit und hörten sich an, als seien sie nur ein fernes Echo ihrer selbst. Ocker, Beige und ein aufgehelltes, verwässertes Weinrot waren die dominierenden Farben, und nach einer Weile merkte ich, daß sie auf vage, sanfte Weise die Erinnerung an den Gehrock von Loyola de Colón wachriefen. Glänzendes Parkett. Ein Kronleuchter aus der Zeit des Jugendstils. Große Photographien berühmter Geiger an den Wänden. Und Chintz, viel Chintz, eine ganze Wand war mit dem glatten, verführerischen Stoff bespannt. Am liebsten würde sie in Chintz baden, sagte Lea nach der ersten Woche Unterricht.
    Und dann betrat Marie Pasteur den Raum, die Frau, die Leas Begabung in unglaublichem, atemlosem, verrücktem Tempo zur Entfaltung bringen würde; die Frau, bei der Lea lachen, weinen, toben und außer sich sein konnte wie bei niemandem sonst; die Frau, an die sich mein Kind mit einer einzigartigen, aberwitzigen, lebensgefährlichen Liebe klammern würde; die Frau, in die ich mich noch an diesem Abend verlieben sollte, ohne es zu merken; die Frau, der ich eine unmögliche Liebe entgegenbrachte, denn Lea duldete in ihrer überbordenden, rücksichtslosen Liebe niemanden neben sich, und es war zu jeder Zeit vollkommen klar, daß wir, hätte ich mich von dem Sog meiner eigenen Liebe fortreißen lassen, darüber zu Gegnern, ja Feinden geworden wären, meine Tochter und ich.
    All das stand uns bevor, als Marie hereinkam. Sie trug ein knöchellanges Kleid aus Batikstoff, wie sie Dutzende besaß, in der Erinnerung sehe ich sie stets in einem dieser Kleider, mit Hausschuhen aus weichem Leder, die wie eine zweite Haut waren. Mit ihren erstaunlich kleinen Füßen ging sie darin lautlos durch die großen Räume, und so war es auch an jenem Abend, als sie quer durch das Zimmer zu uns kam und sich auf der Seitenlehne eines Sessels niederließ. Die eine Hand lag im Schoß, mit der anderen stützte sie sich auf die Rückenlehne. Der Anblick ihrer Hände ließ mich meine eigenen Hände spüren: Die meinen fühlten sich viel zu groß und schrecklich plump an im Vergleich zu den ihren, in denen sich, wie ich bald sehen sollte, schlanke Eleganz und große Kraft vereinten, eine Kraft, die keine Spur von Gewalt an sich hatte. Als ihre Hand beim Abschied in der meinen lag, hätte

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