Lea
»Ja, ich denke, das war die letzte Fahrt.«
Es konnte heißen, daß er sich nun von dem Zwang befreit fühlte, immer wieder an den Ort zurückzukehren, an dem er Lea hinter dem Brennholz hatte kauern sehen. Es konnte heißen, daß der Kampf mit dem Maghrebiner endlich zu Ende war. Aber es konnte auch etwas anderes heißen. Ich sah zu, wie sich die Glut durch das Papier seiner Zigarette fraß. Von der Seite war an seinem Gesicht nicht zu erkennen, welche Bedeutung die Worte hatten. Ob sie entspannte Worte eines Abschlusses waren oder eine Ankündigung.
Er drückte die Zigarette aus. »Ich habe nicht gesehen, wie er auf unseren Tisch zukam; Lévy, meine ich. Plötzlich stand er einfach da, grußlos, selbstgewiß, ein Mann, dem die Welt gehörte, und richtete das Wort an Lea. ›Une décision injuste‹ , sagte er, ›j’ai lutté pour vous.‹ Er hat eine melodiöse Stimme, die auch trägt, wenn er leise spricht. Lea schluckte den Bissen hinunter und sah zu ihm auf: hellgrauer Anzug aus edlem Tuch, tadellos geschnitten, Weste mit Uhrenkette, volles, graumeliertes Haar, Kinnbart, goldgeränderte Brille, ein Zug von ewiger Jugend im Gesicht. ›Votre jeu: sublime; superbe; une merveille.‹ Ich sah das Leuchten in Leas Augen, und da wußte ich: Sie würde mit ihm weggehen in die französische Sprache, in die Sprache Céciles, die sie so lange nicht mehr hatte sprechen können.
Lévy, er entführte mir meine Tochter in diese Sprache. Von nun an brauchte auch Lea das Wort sublime , ein Wort, das ich von Cécile nie gehört habe. Und es war nicht nur dieses Wort, es kamen andere dazu, seltene, erlesene Wörter, die sich zu einem neuen Raum fügten, in dem meine Tochter zu wohnen begann.
Sein Staccato der Bewunderung ohne Verb – es war mir gestelzt vorgekommen, manieriert, affig. Dieser sprachliche Gestus, er allein hätte gereicht, um mich gegen ihn einzunehmen. Viel später, bei einer Begegnung, nach der plötzlich alles anders aussah, habe ich begriffen, daß dieser Stil zu ihm gehörte wie die Weste, die Uhrenkette, die englischen Schuhe. Daß er ein Mann wie aus einem französischen Schloß war, der Proust und Apollinaire auswendig kannte. Daß es, wohin er auch ginge, stets ein Schloß um ihn herum gäbe, Gobelins, Möbel aus erlesenem Holz, glänzend, unantastbar. Und daß, wenn er das Unglück kennenlernen würde, es das Unglück eines enttäuschten, einsamen Schloßbesitzers sein würde, über dessen Kopf die Holzbalken in den hohen Decken morsch und faulig würden und die Kronleuchter matt und fleckig in Messing und Glas.
›Vous et moi, nous faisons quelques pas?‹ Er konnte sehen, daß Lea, daß wir alle mitten im Essen waren. Er konnte es sehen . ›Avec plaisir‹ , sagte Lea und erhob sich.
Ich wußte sofort, daß es von nun an immer so sein würde: daß sie für ihn mitten im Essen und mitten in allem anderen aufstehen würde. Er nahm ihre Hand und deutete einen Handkuß an. Ich erstarrte. Dabei fehlten mindestens zehn Zentimeter, bis seine Lippen die Hand berührt hätten. Zehn Zentimeter, mindestens. Und es war nur ein Ritual, eine verblaßte Erinnerung an einen Kuß. Pure Konvention. Trotzdem.
Er wandte sich zu uns, ein kurzer Blick, die Andeutung einer Verbeugung. › Marie. Monsieur.‹
Marie und ich, wir legten Messer und Gabel zur Seite und schoben den Teller von uns. Es war, als sei uns die Zeit vor der Nase abgeschnitten worden. Lea hatte sich zu uns umgedreht, bevor sie ging, einen Anflug von schlechtem Gewissen im Blick. Dann war sie neben Lévy hinausgegangen, hinaus aus dem Leben, das sie mit Marie und mir geführt hatte, hinein in ein Leben mit einem Mann, von dem sie vor fünf Minuten noch nichts gewußt hatte, einem Mann, der sie in schwindelerregende Höhen und später an den Rand des Abgrunds führen würde. Mein Magen fühlte sich an wie ein Klumpen Blei, und im Kopf war dumpfe, gedankenlose Stille.
Durch die Glastür des Speisesaals sahen wir, wie Lévy im Foyer auf Lea wartete. Als sie zu ihm trat, hatte sie den Mantel an. Das Haar, das sie hier die ganze Zeit aufgesteckt getragen hatte, war jetzt gelöst. Das aufgesteckte Haar war gewesen wie eine gebremste, gebändigte Energie und wie ein Verzicht: Alle Kraft, alle Liebe sollte in die Töne fließen. Jetzt floß mit dem wallenden Haar auch ihr Körper in die Welt, nicht nur ihr Können. Ich dachte, vielleicht würde ihr Spiel nun an Kraft verlieren. Doch das Gegenteil trat ein: Ihr Ton bekam selbst etwas Körperliches und
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