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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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eine sinnliche Wucht, die neu war. Oft sehnte ich mich nach ihrer kühlen, sakralen Sprödheit zurück. Sie hatte so gut, so vollkommen zu Leas nonnenhafter Schönheit gepaßt, die von dem Fluß des wallenden Haars weggespült wurde.
    Sie ging mit Lévy durchs Foyer und hinaus in die Nacht.
    Nichts würde mehr sein wie zuvor. Leiser Schwindel erfaßte mich, es war, als verlören der Speisesaal, das Hotel und der ganze Ort ihre gewöhnliche, kompakte Wirklichkeit und verwandelten sich in die Kulisse eines bösen Traums.
    Erst jetzt bemerkte ich, wie sehr sich Maries Gesicht verändert hatte. Es war gerötet wie im Fieber, und aus ihren Zügen sprach etwas Hartes und Unversöhnliches. Marie. Sie kannten sich. Der Blick, den er ihr zugeworfen hatte, war ein Blick ohne Wärme und ohne Lächeln gewesen, ein Blick, der sie über eine große zeitliche Distanz hinweg grüßte. Es hatte die Erinnerung an etwas Dunkles und Bitteres daraus gesprochen, aber auch die Bereitschaft, es ruhen zu lassen.
    ›Ist er auch Geiger?‹ fragte ich. Sie schlug die Hände vors Gesicht. Der Atem ging stockend. Jetzt sah sie mich an. Es war ein sonderbarer Blick, und erst in der Erinnerung gelang es mir, ihn zu entziffern: Es lagen Schmerz und Verbitterung darin, aber auch ein Funke Bewunderung und – ich weiß nicht – sogar noch mehr.
    › Der Geiger‹, sagte sie. › Der Geiger der Schweiz. Vor allem der französischen Schweiz. Es gab keinen besseren, damals, vor zwanzig Jahren. So sahen es die meisten, und er ließ keinen Zweifel daran, daß er selbst es auch dachte. Reicher Vater, der ihm eine Geige von Amati kaufte. Aber es war nicht nur das Instrument. Es waren die Hände. Die Veranstalter hätten jedes Konzert mit ihm fünfmal, zehnmal verkaufen können. DAVID LÉVY – der Name besaß damals einen unerhörten Glanz.‹
    Sie steckte eine Zigarette an und rieb dann lange mit dem Daumen am Feuerzeug, ohne etwas zu sagen.
    ›Dann kam Genf, ein Aussetzen des Gedächtnisses bei der Oistrach-Kadenz des Beethoven-Konzerts, er verläßt fluchtartig den Saal, die Zeitungen sind voll davon. Danach ist er nie mehr aufgetreten. Jahrelang hörte man nichts mehr von ihm. Gerüchte über eine psychiatrische Behandlung. Dann, vor etwa zehn Jahren, begann er mit Unterricht. Er entwickelte sich zu einem phänomenalen Lehrer, sein ganzes Charisma floß jetzt ins Unterrichten, und sie gaben ihm in Bern eine Meisterklasse. Plötzlich hörte er auf, niemand verstand, warum. Zog sich in sein Haus in Neuchâtel zurück. Ab und zu hörte ich von jemandem, der bei ihm Unterricht nahm, aber es müssen Ausnahmen gewesen sein. In den letzten zwei, drei Jahren habe ich nichts mehr von ihm gehört. Ich hatte keine Ahnung, daß er hier in der Jury sitzen würde.‹
    Sie war sicher, daß er Lea Unterricht anbieten würde. ›Die Art, wie er sie angesehen hat‹, sagte sie. Und sie war sicher, daß Lea es machen würde. ›Ich kenne sie. Das ist dann das zweite Mal, daß ich gegen ihn verliere.‹
    In der nächsten Zeit war ich immer kurz davor zu fragen, worin die erste Niederlage bestanden hatte. Und ob es deswegen war, daß sie weder als Solistin auftrat noch im Orchester spielte. Doch im letzten Moment warnte mich etwas. Irgendwann war es dann zu spät, und so habe ich es nie erfahren.
    Als wir vor ihrem Zimmer standen, sah sie mich an. ›Es wird nicht so kommen, wie Sie vielleicht denken‹, sagte sie. ›Mit ihm und Lea, meine ich. Da bin ich sicher. Er ist nicht diese Art Mann.‹
    Er ist nicht diese Art Mann. Wie oft würde ich mir das in den nächsten Jahren vorsagen!
    Am folgenden Tag nahm Lévy sie in seinem grünen Jaguar mit nach Neuchâtel.
    ›So können wir gleich mit der Arbeit beginnen‹, sagte Lea. Sie saß in meinem Zimmer, nachdem sie vom Spaziergang mit ihm zurück war, das Haar feucht vom Schnee. Ich hatte nicht gewußt, daß es so anstrengend sein kann, ruhig zu bleiben. Sie sah es. ›Es ist … es ist doch in Ordnung so, oder?‹
    Ich sah sie an, und es war mir, als sähe ich das vertraute Gesicht ganz neu. Das Gesicht, das sich aus dem Gesicht meiner kleinen Tochter entwickelt hatte, die Loyola de Colón im Bahnhof atemlos zugehört hatte. Das Gesicht eines kleinen Mädchens, eines Teenagers und einer jungen, ehrgeizigen Frau, die gerade einem Mann begegnet war, von dem sie sich eine glanzvolle Zukunft erhoffte. Alles in einem. Hätte ich es ihr verbieten sollen? Verbieten dürfen? Was hätte das zwischen uns angerichtet? Und ich bin

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