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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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hinaus.
    Ich hatte, als ich aufstand, weder Lea noch Marie angesehen. Es gab nichts zu erklären. Es war eine Flucht. Eine Flucht vor der Beklommenheit dieser Kinder, denen irgend jemand weisgemacht hatte, es sei wichtig, hierherzufahren und sich den Blicken und Ohren der Konkurrenten und Preisrichter auszusetzen. Der Älteste war zwanzig, die Jüngste sechzehn. JEUNESSE MUSICALE , die Stadt war voll mit diesen Lettern, die schön und friedlich aussahen, goldene Tünche über lauernder Angst, würgendem Ehrgeiz und feuchten Händen. Abseits der Straße stapfte ich durch den hohen Schnee. Als ich in der Ferne eine Reihe wartender Taxis sah, dachte ich erneut an Kloten. Lea würde von der Bühne aus meinen leeren Platz sehen. Ich kühlte mir das Gesicht mit Schnee. Als ich eine halbe Stunde später mit nassen Hosenbeinen den Saal betrat, war Lea bereits im Warteraum. Marie sagte nichts, als ich mich setzte.«
16
    »SECHS JAHRE WAR ES HER , daß ich in der Aula der Schule gesessen und Lea das erste Mal auf der Bühne gesehen hatte. Geht es allen so, daß eine große Angst sich niemals auflöst, sondern nur hinter der Kulisse verschwindet, um später einmal wieder hervorzutreten, ungebrochen in ihrer Macht? Geht es Ihnen auch so? Und warum ist es mit Freude, Hoffnung und Glück anders? Warum sind die Schatten so viel mächtiger als das Licht? Können Sie mir das, verdammt noch mal, erklären?«
    Sein Blick sollte, glaube ich, voller Ironie sein – der Blick von einem, der auch seiner Trauer und Verzweiflung gegenüber noch Abstand wahren konnte. Ein Blick wie vor dem offenen Aufzug gestern abend. Ein Blick wie der von Tom Courtenay, als er der einzige blieb, den an den Besuchstagen niemand besuchte. Doch Van Vliet fehlte die Kraft, und es wurde ein Blick voller Schmerz und Unverständnis, der Blick eines Jungen, der in den Augen des Vaters nach Halt sucht. Als sei ich einer, bei dem ein solcher Blick gut aufgehoben ist.
    »Du bist so stark in deinem weißen Kittel«, hatte Leslie einmal gesagt, »und doch kann man sich an dir nicht festhalten.«
    Ich war froh, daß eine Schranke kam und ich nach Geld für die Autobahngebühr suchen mußte. Als wir weiterfuhren, klang Van Vliets Stimme wieder sicherer.
    »Als die Lichter ausgingen und Lea auf die Bühne trat, machte Marie im Dunkeln mit dem Daumen das Zeichen des Kreuzes. Vielleicht war es nur Einbildung, aber die Stille schien noch vollkommener zu sein als vor dem Spiel der anderen. Es war die Stille eines Kreuzgangs, dachte ich, eines unsichtbar belagerten Kreuzgangs. Vielleicht dachte ich es auch, weil Lea in dem hochgeschlossenen schwarzen Kleid und mit dem aufgesteckten Haar wie eine Novizin aussah, ein Mädchen, das alles hinter sich gelassen und sich ganz der heiligen Messe der Töne verschrieben hatte.
    Langsamer, als ich es von ihr kannte, legte sie das weiße Tuch über die Kinnstütze der Geige, prüfte, korrigierte, prüfte noch einmal. Die Sekunden dehnten sich. Ich dachte an das Rondo und an Leas Äußerung, sie hätte die Geige am liebsten ins Publikum geschleudert. Jetzt prüfte sie noch einmal die Spannung des Bogens, dann schloß sie die Augen, setzte den ersten Griff und führte den Bogen an die Saiten. Das Licht der Scheinwerfer schien noch eine Spur heller zu werden. Was jetzt kam, würde über Leas Zukunft entscheiden. Ich vergaß zu atmen.
    Daß meine Tochter solche Musik spielen konnte! Eine Musik von solcher Reinheit, Wärme und Tiefe! Ich suchte nach einem Wort, und nach einer Weile kam es: sakral . Sie spielte die Sonate von Bach, als baute sie mit jedem einzelnen Ton an einem Heiligtum. Entsprechend makellos waren die Töne: Sicher, rein und unverrückbar durchschnitten sie die Stille, die, je länger das Spiel dauerte, noch größer und tiefer zu werden schien. Ich dachte an die Klänge von Loyola de Colón im Bahnhof, an Leas erste, kratzende Töne in unserer Wohnung, an die Sicherheit, die Maries Töne bei der ersten Begegnung gehabt hatten. Marie wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß aus dem Gesicht. Ich roch ihr Parfum und spürte die Wärme ihres Körpers. Sie war es, die aus meiner kleinen Tochter eine Frau gemacht hatte, die den Ballsaal des Hotels mit dieser überwältigenden Schönheit zu füllen verstand. Für einen Augenblick nahm ich ihre Hand, und sie erwiderte meinen Druck.«
    Van Vliet trank. Ein paar Tropfen rannen ihm übers Kinn. Es mag sonderbar klingen, aber diese Tropfen, dieses Zeichen mangelnder Kontrolle,

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